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In OMAS ZEITung (14): Stadtrundfahrt durch West-Berlin oder: Propaganda

Dorothea Spannagel war Lokalreporterin im Berlin der 50er Jahre. Ihr Enkel Lars entdeckt ihre Texte neu. Diesmal: Oma Thea begleitet eine Stadtrundfahrt für Ost-Berliner durch West-Berlin.

Als Journalist halte ich es für meine Pflicht, unabhängig und neutral zu berichten. Ich bin mir nicht sicher, ob das meine Oma Thea auch so gesehen hat. Oder sehen durfte. Anfang der 50er Jahre schreibt sie zwar in derselben Stadt wie ich heute – aber in einer völlig anderen Zeit. Berlins Teilung wird immer deutlicher, die Propaganda beiderseits der Sektorengrenzen rattert auf Hochtouren. Die „Neue Zeitung“, für die meine Großmutter arbeitet, wird von den US-Streitkräften herausgegeben – und das ist in ihrem Text vom 2. Dezember 1952 klar zu erkennen.

Unter dem Titel „Wie es in Westberlin wirklich aussieht – Rundfahrt durch eine freie Stadt“ schreibt meine Oma über die erste Busrundfahrt für Ost-Berliner durch die West-Sektoren. Noch gibt es keine Mauer, drei Busse kutschieren 120 Neugierige vom S-Bahnhof Neukölln aus durch den Westteil. So richtig geheuer scheint vielen Ost-Berlinern der Ausflug nicht zu sein. „Die Fahrtteilnehmer aus Treptow, Lichtenberg, Karlshorst, Schöneweide, Johannisthal und Adlershof tauen nur langsam auf“, berichtet meine Oma. „Die sich kennen, flüstern ab und zu miteinander, von den anderen halten sie vorsichtshalber Distanz.“

Die Route führt durch ganz West-Berlin: „Durch die Ruinen des Kreuzberger Grenzviertels geht es über Wittenbergplatz, Zoo, Schiller-Theater zurück zum Tiergarten, vorbei am Englischen Garten, durch Moabit, Wedding, Humboldthain, Rehberge.“ Meine Oma betont, dass nicht nur Neues und Schönes präsentiert wird, sondern auch eher schmuddelige Ecken wie ein Flüchtlingslager aus Wellblechhütten am Stadion Wilmersdorf. „Auch die Nissenhütten werden entgegen der Annahme der ,Täglichen Rundschau‘ nicht schamhaft umfahren“, schreibt sie. „Es sind nicht 2000, wie östlicherseits behauptet wird, aber bedauerlicherweise immer noch 298.“ Die „Tägliche Rundschau“, man ahnt es, ist das sowjetische Pendant zur „Neuen Zeitung“, die seit 1946 nicht mehr im Osten verkauft werden darf.

Im Stadtrundfahrt-Artikel kommen auch Ost-Berliner zu Wort – mit seltsamen Zitaten: „Mein Nachbar flüstert mir zu: ,Besser trocken wohnen in einer Nissenhütte im Westen als in einer Wohnung im Osten, in der es sieben Jahre nach dem Kriege noch durchregnet wie bei mir.‘ “

Hat der das echt so gesagt, Oma? Hast du den Satz vielleicht ein bisschen zugespitzt? Oder hat ihn dir dein Chef reinredigiert? Der Schluss des Artikels klingt noch mehr so, als habe ihn sich jemand am Schreibtisch ausgedacht. „Auf die Frage an meinen Nachbarn, was ihm am besten gefallen habe, kommt eine ganz andere Antwort, als ich erwartet hatte: ,Dass man hier in Freiheit lebt.‘ “ Oma, unter uns Reportern, ganz ehrlich: Gloob ick nich.

1952 muss man anscheinend auch als Lokalreporterin manchmal große Politik machen. Ich sehe das so: Vielleicht musste meine Oma parteiisch schreiben, damit ich heute unparteiisch schreiben kann.

Diese Kolumne ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Alle Folgen finden Sie unter diesem Link.

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