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Berlin: Irmgard Graß (Geb. 1918)

Eine einfache Frau, die sehr kompliziert sein konnte.

Das Leben von Irmgard Graß begann mit einer Verformung. An der Schädeldecke hatte sie eine Delle, die aussah wie der Abdruck einer Hand. Wahrscheinlich die nicht ganz fachmännische Arbeit der Geburtshelferin.

Irmgard Graß, Berti genannt, wurde am 18. März 1918 in Berlin geboren. Zwei Jahre zuvor war ihre Schwester Käthe zur Welt gekommen, schwer behindert. Irmgard Graß wuchs nicht bei ihren Eltern im Wedding auf. Sondern bei der Schwester ihrer Mutter und deren Mann, die kinderlos waren und ganz in der Nähe wohnten. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern wegen der Verformung an der Schädeldecke Angst, dass ihr zweites Kind ebenfalls nicht gesund sein könnte. Wann Irmgard Graß erfuhr, dass die Menschen, bei denen sie wohlbehütet und glücklich gelebt hatte, nicht ihre Eltern waren, weiß niemand.

1941 hat sie geheiratet, einen Friseur, der in der Nähe der Fleischerei in der Müllerstraße arbeitete, in der sie Verkäuferin war. Zwei Jahre später bekam sie eine Tochter, das zweite Kind, einen Sohn, trug sie gegen den Willen ihres Mannes aus. Es war Krieg.

Irmgard Graß war eine einfache Frau, die sehr kompliziert sein konnte. Wenn sie mit ihrem Sohn zum Bäcker ging, kaufte sie an einem Tag einem armen Teufel etwas zu essen und und beschimpfte so jemanden am nächsten Tag als „letzten Penner“. Ihr Sohn ist mit diesen Stimmungsschwankungen aufgewachsen. Er fühlte sich seiner Mutter seelenverwandt und tat alles, damit es ihr gut ging.

Ihr Mann starb 1985. Ein Jahr zuvor hatte sie ihre Stelle in der Moabiter Markthalle aufgegeben, um ihn zu pflegen. Nun war sie ganz allein in der Wohnung; nur zu einem Ehepaar, das auf der anderen Straßenseite wohnte, unterhielt sie eine Freundschaft. Sie suchte einen Seelentröster und fand ihn im Alkohol. Ihr Leitspruch lautete fortan: „Prost, sagt Jost, das Leben ist bemoost.“

Ihre Kinder besuchten sie regelmäßig, brachten Essen und auch das geliebte Bier. Und irgendwann erlebten sie, wie ihre Mutter plötzlich die einfachsten Dinge nicht mehr verstand und sich immer seltsamer benahm. Im Restaurant kam es vor, dass sie andere Gäste beschimpfte, manchmal wusste sie nicht mehr, wer sie war. Sohn und Tochter dachten, das seien Folgen eines Alkoholentzugs, den sie ihnen zuliebe unternommen hatte.

Aber das war es nicht. Irmgard Graß litt unter Demenz. Stundenlang saß sie am Küchentisch und las mit lauter Stimme die immer gleichen Überschriften von Zeitungsartikeln vor.

Ausgerechnet in dieser Zeit, sie war jetzt 80, wollte sie das Geheimnis ihres Lebens lüften. Sie sagte zu ihrer Cousine, sie müsse „es“ ihren Kindern erzählen. Der Satz „Ich wurde verschenkt“ sollte reichen. Was sie damit meinte, konnte sie nicht erklären.

Die Kinder forschten nach. Im Stammbuch fehlten zwei Seiten und damit auch die Namen der Großeltern. Beim Standesamt stießen sie auf die Namen jener Leute, die sie für ihre Großeltern gehalten hatten. Dabei fanden sie einen handschriftlichen Kindesannahmevertrag. Ihre eigentlichen Großeltern, die mit der behinderten Tochter, kannten sie vom Sehen her. Dass das aber ihre Tante nebst Oma und Opa gewesen waren, das erfuhren sie erst jetzt. Und jetzt verstanden sie, warum dieses ältere Paar der Mutter, Irmgard Graß, immer ausgewichen war.

Nach einer Odyssee durch Seniorenheime, Kliniken und Pflegeeinrichtungen wurde die Diagnose gestellt. Frontotemporale Demenz, eine Krankheit, für die es kaum gezielte Therapien gibt. Es dauerte lange, bis ihr Medikamente verschrieben wurden, die ein wenig halfen. Sie konnte wieder Mensch-ärgere- dich-nicht spielen und trank auch wieder ihr geliebtes Malzbier.

Am 25. Juni starb Irmgard Graß im Pflegeheim. Weil die Todesursache nicht gleich klar war, wurden Polizeibeamte gerufen. Als Erstes fragten sie nach der seltsamen Verformung am Hinterkopf. Barbara Bollwahn

Barbara Bollwahn

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