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Berlin: Ist es scheinheilig, nur Heiligabend in die Kirche zu gehen?

PROJa, ich bin so frei. Ich glaube nicht an einen Schöpfergott, allmächtig und unfehlbar.

PRO

Ja, ich bin so frei. Ich glaube nicht an einen Schöpfergott, allmächtig und unfehlbar. Einen ersten Beweger und Begründer, der uns sagt, wie wir leben sollen und wo wir Trost finden. Aber was ist dann der Sinn unseres kurzen irdischen Daseins, und was kommt danach? Das sind die spannendsten Fragen der menschlichen Existenz. Und nach allem, was die Menschheit in jahrtausendelangen Grübeleien dazu herausgefunden hat, muss wohl jeder seine persönlichen Antworten darauf finden. Für die einen liegen sie im Glaubensbekenntnis. Andere versuchen, Antworten zu finden, für die kein Gott die Letztbegründungen liefert. Das ist die Freiheit, zu der der Mensch verurteilt ist, wie es der Philosoph Jean-Paul Sartre formuliert hat. Womit man diese Freiheit aber nicht verwechseln sollte, ist Beliebigkeit: Die kirchliche Gemeinschaft suchen, wenn’s zur Weihnachtszeit das Herz wärmt, und den Glauben vergessen, wenn’s darum geht, ihn im Alltag zu leben. Antworten auf die spannendsten Fragen des Lebens findet man gewiss nicht in einem Gottesdienst, der als Weihnachtsshow zwischen Gänsebraten und Geschenke-Overkill konsumiert wird. Das ist Rosinenpickerei fürs Seelenheil. Im besten Fall Selbstbetrug. In jedem Fall aber Respektlosigkeit gegenüber Gläubigen und ihrem Gott. Nein, ich habe auch zu Weihnachten nichts in der Kirche verloren – und jeder, der sich innerlich von ihr bereits verabschiedet hat, sollte sich vorher fragen, was er dort wirklich sucht.

CONTRA

Der Geist der Weihnacht ist für alle da: „Frieden auf Erde und den Menschen ein Wohlgefallen“ – seid tolerant, geht nett miteinander um, lebt in Frieden. Eine Botschaft, die zu feiern sich lohnt – man muss dafür nicht an Gott und seinen eingeborenen Sohn glauben. Auch nicht, um am Heiligen Abend die Weihnachtsbotschaft zu feiern. Und zwar an dem Ort, wo sich dann der Geist der Weihnacht am besten finden lässt: der festlich geschmückten Kirche voller Lichter. Man singt gemeinsam die vertrauten Lieder und hört die Weihnachtsgeschichte: Fürchtet euch nicht, es gibt immer Hoffnung. Es stellt sich ein wohliger Schauer ein, wie damals als Kind. Der „Friede auf Erden“ rückt für einen Moment etwas näher. Ja, denkt man, Weihnachten bedeutet mehr als Konsum, mehr als Schokolade und die neuesten Elektrogeräte. Doch da ist dieser Misston: „Heuchlerin“, denken einige. „Scheinheilige, die geht sonst nie in die Kirche.“ Ich bin aber keine Heuchlerin. Heucheln – das bedeutet, etwas vorzutäuschen. Ich gaukele niemandem etwas vor: Ich gebe mich nicht heilig, auch nicht zum Schein. Dafür glaube ich an den Geist der Weihnacht. Und den findet man nur einmal pro Jahr in der Kirche. Also gehe ich mit schöner Regelmäßigkeit dorthin – alle 365 Tage einmal. Einige andere dagegen haben vielleicht gerade an diesem Tag dort nichts zu suchen: Wer mit dem Finger auf andere zeigt und sie ausschließen will, der hat den Geist der Weihnacht nicht verstanden. Daniela Martens

Abstimmung und Diskussion zum Thema unter http://www.tagesspiegel.de/themen

Roland Koch

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