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Berlin: „Ja, wir alle haben versagt“

Bildungssenator Klaus Böger (SPD) über Integration, Werteunterricht und die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit

Herr Böger, wissen Sie überhaupt, was in den Berliner Schulen vor sich geht?

Ja. Ich glaube, ich bin einer derjenigen, die am klarsten sehen, was in den Schulen passiert.

Auch in Bezug auf Migrantenkinder, ausländische Jugendliche?

Auch im Hinblick auf sie – und das nicht erst seit Holland, sondern seit meinem Amtsantritt habe ich die Integration zu einem zentralen Thema der Bildungspolitik gemacht. Das hat etwa dazu geführt, dass der Sprachstand der Vorschüler flächendeckend getestet wird. Noch vor drei Jahren galt es vielen als Zumutung, von Migranten die Beherrschung der deutschen Sprache zu erwarten.

Es gibt große Alltagsprobleme. Moslemische Eltern wollen nicht, dass ihre Töchter am Schwimm- oder Sexualkundeunterricht oder an Klassenfahrten teilnehmen.

Mit der Schule allein kann ich eine zunehmende Islamisierung nicht verhindern. Ich habe aber eine regelmäßige Runde mit Grundschulleitern, die in ihren Schulen 70 oder sogar 90 Prozent Kinder islamischen Glaubens haben. Ich will mich über ihre Probleme informieren und ihnen den Rücken stärken.

Wie erklären Sie sich die zunehmende Islamisierung in der vierten Generation?

Wir haben uns zu lange nicht klar gemacht, dass wir tatsächlich ein Einwanderungsland sind und dass man gerade deshalb an die Einwanderer auch bestimmte Anforderungen stellen muss. Jetzt müssen wir konstatieren, dass sogar noch die Generation der hier geborenen türkischen Berliner sich ihre Ehepartnerinnen aus der Türkei holen. So wiederholen sich die Probleme ständig. Und manche verstärken sich auch.

Welche zum Beispiel?

Früher war es für muslimische Eltern schwierig, einen Arzt zu finden, der einem gesunden Kind ein Attest ausstellte, damit es nicht am Sportunterricht teilnehmen musste. Heute finden diese Eltern Ärzte muslimischen Glaubens, die solche Atteste ausstellen. Dagegen können wir nichts machen.Das übersteigt die Möglichkeit der Schule.

Haben Sie Zahlen darüber, wie viele Mädchen abgemeldet werden.

Nein, wir führen darüber keine Statistik. Aber wir haben Erkenntnisse über die Ablehnung des Sexualkundeunterrichts, über die Nichtteilnahme am Turnunterricht oder an Ausflügen. Diese Tendenzen verstärken sich.

Müsste man nicht den Ehegattennachzug erschweren, der die Integration behindert?

Ich bin sehr dafür, Zwang- oder Scheinehen zu unterbinden. Das muss im Ausländerrecht geregelt werden. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass sich bestimmte Probleme damit nicht beseitigen lassen. Unsere Gesetze gehen zu Recht davon aus, dass Eltern vor allen Dingen das Kindeswohl im Sinn haben.

Mit dem Hineinwachsen der Türkei in die EU würde es aber noch schwieriger, so etwas wie den Ehegattennachzug zu unterbinden. Müsste man dann nicht wenigstens Grundbedingungen formulieren, etwa, dass jemand, der über eine Eheschließung nach Deutschland kommt, verbindlich Deutsch lernen muss?

Ich bin für diese Regelung. Mit dem neuen Zuwanderungsgesetz werden ja ab Januar 2005 Deutschkurse für Zuwanderer verbindlich und finanziert. Leider gilt das Gesetz aber nur für Menschen, die neu kommen und nicht für die, die schon da sind. Ich war schon immer dafür, dass

Menschen, die hier leben, auch verpflichtet werden müssen, Deutschkurse zu besuchen.

Mehr als jeder vierte jugendliche Migrant erreicht keinen Hauptschulabschluss, fast jeder Zweite ist arbeitslos, kaum einer bekommt eine Lehrstelle: Müssen sich diese jungen Leute nicht diskriminiert fühlen?

Die dramatischste Zahl, die es im Berliner Bildungswesen gibt, ist tatsächlich die hohe Quote von Migrantenkindern ohne Schulabschluss. Es ist richtig, dass wir in unserem Bildungssystem bestimmte Herausforderungen nicht gemeistert haben, obgleich wir die Hauptschulen personell und sächlich besser ausgestattet haben und die Lehrerinnen und Lehrer hervorragende Arbeit leisten. Die Probleme kumulieren, weil viele dieser Jugendlichen aus einer bildungsfernen Schicht kommen.

Wenn Sie überzeugt sind, dass das Sprachvermögen die Wurzel ist, müsste man doch hier mehr investieren und beispielsweise den Kitas mehr Personal geben.

Wir haben die Fortbildungsmaßnahmen für Erzieherinnen verdoppelt, das neue Kita-Bildungsprogramm wird angenommen und wir testen die Sprachfähigkeit. Außerdem bekommen im Januar alle Kitas von meinem Haus zusätzliche Materialien. Dafür habe ich glücklicherweise einen Sponsoren gefunden. Parallel wird es die verpflichtenden Deutschkurse geben. Wenn aber in den Elternhäusern kein Deutsch gesprochen wird, keine Bildungsanregung stattfindet und ständig das türkische Fernsehen läuft, dann werden wir es weiter schwer haben, dann werden unsere Anstrengungen teilweise zunichte gemacht.

Haben wir nicht zu spät angefangen, das zur Kenntnis zu nehmen?

Ja, wir alle haben versagt: Die Politik in der Bundesrepublik Deutschland, die Gesellschaft, auch die Journalisten haben viel zu lange weggesehen und Toleranz mit Beliebigkeit verwechselt und zu lange weggeschaut. Das gilt in Amsterdam genauso wie in London oder in Paris. Wir müssen uns klar werden, dass die europäischen Demokratien einen Wertekonsens haben, den es zu verteidigen gilt.

War es das Ergebnis falsch verstandener Toleranz, dass die Islamische Föderation an die Schulen gelassen wurde?

Das war ein Fehler von Anfang an. Schon meine Amtsvorgänger haben versucht, dies mit Hilfe der Justiz abzuwenden. Vergebens. Wir sind durch eine Gerichtsentscheidung dazu gezwungen worden. Ich bin schon lange für eine verbindliche Werteerziehung für alle. Dafür gab es lange keine Mehrheiten — auch in den Reihen der SPD nicht. Das Berliner Modell des Religionsunterrichts hat längst seine Berechtigung verloren. Es führt zu Beliebigkeit und erreicht die meisten Schüler nicht mehr. Dann kam auch noch die Islamische Föderation dazu. Und nun werbe ich dafür, die rechtlichen Grundlagen zu ändern. Ich will einen für alle verbindlichen Unterricht in Lebenskunde/Ethik/Religion wie in Brandenburg. Bis die Schüler religionsmündig sind, können die Eltern entscheiden, ob ihre Kinder daran teilnehmen wollen oder alternativ an einem bekenntnisorientierten Unterricht unter Aufsicht des Staates — in Absprache mit Religionsgemeinschaften, die klaren Anforderungen genügen müssen, die bundesgesetzlich vorgeschrieben sind. In dieses Konzept könnte man Islamkunde integrieren.

Wann kommt das Gesetz?

Der Entwurf liegt in meinem Haus vor. Ich hoffe sehr, dass die Koalition sich damit schnell befasst. Die SPD-Führung unterstützt das Konzept. Ich teile die Auffassung des Fraktionsvorsitzenden Michael Müller. Auch in der PDS hat inzwischen ein Umdenken begonnen. Ich will, dass alle Kinder in Berlin lernen, welche Ursprünge das Weihnachtsfest hat und was der Ramadan und das Fastenbrechen ist. Religiöse Bräuche und sittliche Werte sollten allgemein vermittelt werden. Wissen übereinander fördert die Toleranz.

Wenn Ihr Konzept keine Mehrheiten findet: Werden Sie dann als Ergänzung des jetzigen Religions- und Lebenskundeunterrichts Islamkunde in deutscher Sprache anbieten, wie es Niedersachsen vorhat?

Vielleicht kommt es dazu, wenn sich ein Werteunterricht für alle nicht durchsetzen lässt. Aber ich halte es nicht für die beste Lösung, weil wir dem Flickenteppich, den wir jetzt schon haben, nur noch etwas zufügen würden. Und die Islamische Föderation bliebe trotzdem an den Schulen.

Der Religionsunterricht ist nur ein Problem. Warum gehen von Berlin, wo hunderttausende Migranten leben, nicht mehr Impulse aus? Als Labor für das Zusammenfinden; gerade an den Schulen? Ständig nehmen wir Initiativen aus anderen Bundesländern auf.

Da halte ich gegen. Fachleute aus vielen europäischen Ländern besuchen in Berlin Schulen, in denen bilingualer und deutsch-türkischer Unterricht stattfindet. Wir haben viele Grundschulen, an denen der Integrationsprozess beispielhaft ist. Berlin ist das erste Bundesland, das alle Kinder mit fünfeinhalb Jahren einschult. Wir sind auch das erste Land, das ab fünf Jahren verpflichtenden Deutschunterricht eingeführt hat. Auch das Quartiersmanagement hat sich bewährt.

Alles wird gut?

Natürlich gibt es Themen, bei denen wir geschlafen haben. Berlin hat zum Beispiel keine wissenschaftliche Einrichtung, die systematisch Lehrkräfte für Islamkunde ausbildet. Studenten haben in Berlin keine Möglichkeit, das Lehramt Türkisch mit einem anderen Schulfach zu verbinden.

Es ist verblüffend, dass Kinder der dritten und vierten Migranten-Generation sich wieder so stark der Religion zuwenden. Liegt das auch an dem Gefühl, in Deutschland chancenlos zu bleiben?

Das glaube ich eher nicht. Der Rückzug auf einen fundamentalistischen Islam hat wohl mehr damit zu tun, dass die arabischen Länder sich durch die Dominanz westlichen Lebensstils und westlicher Ansprüche in die Enge gedrängt fühlen. Religiöse Verkündigungen versprechen da einen festen Halt. Allein die Bilder und Berichte aus dem Irak erwecken bei vielen Muslimen das Gefühl, dass die westliche Supermacht über sie hinwegrollt. Als sei es ein Glaubenskrieg. Da finden Verführer reichlich Nährboden. Was den Fundamentalismus und Terrorismus in keiner Weise entschuldigt.

Aber werden westliche Werte nicht auch deshalb abgelehnt, weil der westliche Lebensstandard nicht erreichbar ist?

Sicherlich verschärft Arbeitslosigkeit die Probleme. Aber es ist keine Frage des Lebensstandards. Die Migranten in Deutschland leben doch insgesamt gut und vernünftig.

Trotzdem lässt sich die zunehmende Kluft zwischen Migranten und Deutschen in den Klassen, zwischen den Eltern und sogar in der Lehrerschaft nicht wegdiskutieren.

Das tue ich auch nicht. Ich warne aber genauso vor Hysterie wie vor Lethargie. Die weltweiten Konflikte spiegeln sich an unseren Schulen wider. Aber die große Leistung, die wir viel zu wenig würdigen, ist: Die Lehrerinnen und Lehrer schaffen es doch, die Konflikte zu reduzieren. Unsere Schulen sind der Ort, an dem die Grundwerte, die uns das Grundgesetz vorgibt, den Bildungsprozess bestimmen. Deutschland braucht Zuwanderung. Aber wir müssen uns auch das Beste erhalten, was wir haben: Unser zivilisatorisches Fundament, das auf der europäischen Aufklärung beruht. Toleranz für Intoleranz darf es nicht geben.

Schule als zivilisatorische Kampfzone?

Wenn Sie das so formulieren wollen. So ist die allgemein bildende Schule doch historisch entstanden. Als der Vermittler zivilisatorischer und emanzipatorischer Werte für das ganze Volk. Lerne, deinen Verstand zu gebrauchen.

Das Gespräch führten Gerd Nowakowski, Susanne Vieth-Entus und Ulrich Zawatka-Gerlach.

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