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Berlin: Jetzt blieb uns nur noch Willy Brandt als Hoffnungsträger

Wie ein Ost-Berliner die Trauer um Kennedy erlebte

„Ich weiß das noch genau: Im Berliner Ensemble gab es Brechts ,Schwejk im 2. Weltkrieg’ mit Martin Flörchinger. Aufgekratzt und belustigt kamen wir aus dem Theater. Es muss nach 22 Uhr gewesen sein. Zufällig blickte ich auf das Leuchtschriftband am Bahnhof Friedrichstraße. Das verbreitete immer so ein Großstadtgefühl, dieses Flimmern vorübereilender Nachrichten. Aber hier stockte der Atem: US-Präsident J. F. Kennedy in Texas ermordet. Es war, als hätte uns der Blitz getroffen.“

Nicht jeder kann sich vielleicht so gut an diesen Abend erinnern wie die Geologie-Studentin Andrea Hiersemann, aber eins wissen alle, die das damals erlebt haben, genau: „Es war ein sehr langer Abend. Wir saßen bis tief in die Nacht vor dem Fernsehapparat. Telefonierten. Diskutierten. Ich hatte noch um drei rasende Herzschmerzen“ – so endete für Helga Pohle in Prenzlauer Berg dieser schwarze Freitag.

Am nächsten Morgen machen die DDR-Zeitungen den Mord groß auf. Das Porträt des Präsidenten hat einen Trauerrand. Laut „Neues Deutschland“ wurde Kennedy „von Ultras ermordet“, der Leitartikel der „Berliner Zeitung“ hebt hervor, dass die Tat in Texas geschah, „einem Zentrum der Reaktion, des weißen Rassenterrors und der Negerunterdrückung“, und im Beileidstelegramm von Walter Ulbricht an Lyndon B. Johnson ist von Trauer und tiefer Empörung die Rede. „Seien Sie versichert, dass unser Abscheu vor den ruchlosen Kräften des Terrorismus ebenso groß ist wie unser tiefes Mitgefühl mit dem amerikanischen Volk, das einen seiner hervorragendsten Staatsmänner verloren hat.“

Aber in keiner offiziellen Verlautbarung fand sich jene Art von Schmerz, die Ost-Berlinern die Luft zum Atmen nahm. Das war die Trauer um den Verlust einer Hoffnung. Gerade war dieser charismatische Held der westlichen Welt von den (West-)Berlinern umjubelt worden und hatte sich selbst zum Berliner erklärt – erweckte das nicht die Idee, zwei Jahre nach dem Mauerbau vielleicht doch mit Vernunft und Menschlichkeit etwas für die Bewohner dieser geschundenen Stadt am äußeren Rand beider Systeme zu tun? Nun lebte der Hoffnungsträger nicht mehr. Was kommt danach? Wir waren enttäuscht von Amerika, wo sie den eigenen Präsidenten erschießen. Und es gab noch einen anderen Grund: Kennedy trug das Gesicht einer freien Gesellschaft. Er war das Junge, Neue – nun blieben uns nur noch die verknöcherten Herren in den proletarischen Politbüros. Und, Gott sei Dank, Willy Brandt.

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