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Berlin: Jubilarin: Auch mit 102 wird die Zeitung aus Berlin täglich studiert

Sie hat den letzten deutschen Kaiser noch Unter den Linden reiten sehen, die Weimarer Republik in Berlin erlebt und die Auswirkungen zweier Weltkriege. Nach dem letzten gehörte Elisabeth Kagelmann zum heldenhaften Heer der Trümmerfrauen, die die zerbombten Reste des 1000-jährigen Reiches wegräumten.

Sie hat den letzten deutschen Kaiser noch Unter den Linden reiten sehen, die Weimarer Republik in Berlin erlebt und die Auswirkungen zweier Weltkriege. Nach dem letzten gehörte Elisabeth Kagelmann zum heldenhaften Heer der Trümmerfrauen, die die zerbombten Reste des 1000-jährigen Reiches wegräumten. In ihrem Beruf als Säuglingsschwester kümmerte sie sich jahrzehntelang um das Wohl und Wehe von Berliner Gören.

Ob ihre unzähligen ehemaligen Schützlinge es allerdings vom zarten Säuglingsalter bis in ihr eigenes Alter schaffen, muss hier offen bleiben - 102 Jahre alt werden noch immer die wenigsten. Elisabeth Kagelmann wird es heute in Frechen. In der Stadt in Nordrhein-Westfalen lebt die Berlinerin seit 15 Jahren im Altersheim - Verbindung zu ihrer Heimatstadt hält sie seitdem durch ihre Zeitung; den Tagesspiegel liest sie seit 1954. An ihrem heutigen Geburtstag ist der Jubilarin dazu vor allem ein besonders helles Tageslicht zu wünschen - bei Lampenlicht machen die Augen doch nicht mehr so mit.

Feiern wird sie ihren 102. heute nicht mehr ganz so groß wie 1999 den 100., als das Altersheim von morgens bis nachts rheinisch-fröhlich Anteil nahm. Ein Mittagessen in der Familie ihres 71-jährigen Sohns Hans ist geplant - dazu gehören auch drei Enkel, der 33-jährige Ulrich, die 36-jährige Dorothee und die 39-jährige Sabine sowie die 10- und 6-jährigen Urenkel Nicolas und Thibaut. Wie jüngst am Heiligabend wird Hans Kagelmann seine Mutter mit dem Auto im Heim abholen. Die knappe Viertelstunde Fußweg bis zur Wohnung des pensionierten Studiendirektors in Frechen lief die Hochbetagte bis 1999 noch selbst.

Weite Wege ist Elisabeth Kagelmann aus ihrer Heimatstadt gewohnt. Geboren wurde sie als Elisabeth Eveking am 4. Januar 1899 aber nicht in Berlin, sondern in Oberschöneweide, das gehörte damals noch zum Kreis Oberbarnim. Dorthin hatte es ihre Eltern aus Westfalen verschlagen, die aufstrebende Industrialisierung an der Oberspree ließ den Vater als Baumeister und Architekten vor dem 1. Weltkrieg gut und mehr als ein Stück Brot verdienen. Aufgewachsen und zur Schule gegangen ist Elisabeth dann in Niederschöneweide, wo der Vater ein großes Mietshaus gebaut hatte, in das die Familie selbst mit einzog. Der Ernst des Lebens begann für das junge Mädchen, als 1914 die Mutter starb. Da musste die 15-Jährige die Schule vor dem Abitur verlassen, um als Älteste von drei Geschwistern im Haushalt einzuspringen. Und als wenig später der Vater eingezogen wurde, schaute sie auch in dessen Firma mit nach dem Rechten.

Trotz aller Belastungen schaffte sie es mit 20 Jahren zur Staatlich geprüften Säuglingsschwester und arbeitete als solche in der Säuglingsfürsorge in Friedrichshain. 1928 heiratete die junge Frau Alfred Kagelmann, der bei der Deutschen Bank sein Brot verdiente. In Baumschulenweg fand das junge Paar sein Nest - "alles war dort schön", erinnert sich der Sohn gern an seine Kindheit in dem offenen, gastfreien Haus der Eltern und an den kleinen Garten, den es dort gab.

In Baumschulenweg überstand die Familie auch glimpflich den 2. Weltkrieg, ihr Haus allerdings bekam ein paar Granattreffer ab. Das Leben normalisierte sich: Nach den Monaten als Trümmerfrau begann Elisabeth Kagelmann wieder in ihrem Beruf zu arbeiten, machte noch ein 2. Staatsexamen und leitete danach in Bohnsdorf selbstständig eine Säuglingsfürsorge.

Die Sicherheit des nach dem Krieg hart erarbeiteten neuen Alltags aber ist trügerisch - das merkt das Ehepaar spätestens am 17. Juni 1953, als in Ost-Berlin russische Panzer gegen die aufständischen Arbeiter auffahren. Hier wollen die beiden nicht bleiben - Hals über Kopf packen die Kagelmanns die nötigste Habe zusammen und verlassen für immer ihr geliebtes Heim in Baumschulenweg Richtung West. Der Sohn studiert zu der Zeit schon zwei Jahre in Köln, das macht den Neuanfang leichter. In der Werftstraße in Moabit findet Alfred Kagelmann ein neues Zuhause für seine Familie, einen Bank-Job hatte er schon vor dem "Umzug" im Westteil Berlins. Nur seine Frau kommt mit damals 54 Jahren beruflich nicht mehr unter. Bis 1986 lebt Elisabeth Kagelmann in der Werftstraße, nach dem Tod ihres Mannes 1984 zwei Jahre allein. Rührend versorgt von den Nachbarn, werden ihr die Berliner Winter dann aber doch zu kalt und zu einsam und die täglichen Besorgungen zu viel - 1986 hört sie auf ihren in Frechen lebenden Sohn und zieht dorthin ins Altersheim. Den Fall der Mauer und das neue Berlin erlebt sie dort aus ihrer Tageszeitung. Sehnsucht nach der Stadt? "Eigentlich nicht, 87 Jahre Berlin sind doch genug für ein Leben", antwortet Hans Kagelmann für seine Mutter. Von Berlin interessiere sie nur noch das, was sie von früher kenne. Ansonsten mache sie ihn inzwischen lieber auf Beiträge zur Genforschung aufmerksam und schneide für den Enkel alles über Japan aus, weil der dort studierte. HEIDEMARIE MAZUHN

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