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Berlin: Kein Tag ohne Pinsel

Mit 43 Jahren änderte Jerry Trezdziak sein Leben – und gründete ein Malstudio

„Wenn ich male, bin ich in einer anderen Welt. Da können Sie neben mir trommeln, ich höre nichts. Wie ich zum Malen kam? Da habe ich gar nichts dafür getan, das war einfach da. Mit 14 habe ich angefangen, Gegenstände abzuzeichnen: Kerzen, Blätter. Oder Glühbirnen. Ich fand es schon immer faszinierend, Transparentes sichtbar zu machen. Mit 15, 16 Jahren bin ich zu Abendkursen an die Hochschule der Künste gegangen, weil ich mit Bleistift und Kohle umgehen lernen wollte. Ich finde es zwar schön, wenn ein Klecks Farbe aufs Papier tropft und zu einer Sonne verrinnt. Aber ich will zufällige Effekte lieber gezielt einsetzen. In den Unikursen damals hat man mir die Augen geöffnet.

Malen und Zeichnen sind nämlich eine Frage des Betrachtens. Nehmen Sie einen Stuhl. Die meisten Menschen sehen den Sitz, die Lehne, die Streben. Ich sehe den Raum dazwischen. Ich kann Luft sehen, das hat für mich auch etwas Malerisches, Berauschendes.

Mein Leben verlief dann aber eher klassisch nach dem Motto: Lerne was Vernünftiges, mache keine brotlose Kunst. Ich habe Jura studiert, bis zum Examen. Dann für einen pharmazeutischen Betrieb und eine Computerfirma im Vertrieb gearbeitet. Ich kam kaum noch zum Malen, der Kopf war voll. Es ging um verkaufen, verkaufen, verkaufen… Mit 43 kam die Wende. Ich wurde arbeitslos, und da habe ich mich gefragt: Was machst du eigentlich mit deinem Leben? Dein Herz gehört doch etwas ganz anderem. Der Kunst!

Früher fehlte mir einfach der Mut, das zu machen, was ich wirklich will. Aber jetzt musste ich es einfach tun. Ich wollte Malen, Leben und Arbeiten möglichst schnell zusammenbringen.

Beim Training im Fitnessstudio ist mir dann plötzlich ein Licht aufgegangen. Ich wollte ein Studio schaffen, in dem Leute für einen Monatsbeitrag Kunst machen können. So nahm ich am Businessplan-Wettbewerb der Investitionsbank Berlin teil und eröffnete vor zwei Jahren das Malfleck-Studio in Kreuzberg. Zu Hause kommt man ja doch nicht so richtig zum Malen.

Wenn Sie den Boden ausgelegt und die Staffelei endlich aufgestellt haben, will garantiert jemand was von ihnen, und die ganze Energie, die man zum Malen braucht, ist wieder weg. Ich sehe vorher immer das Bild, das ich schaffen will. Als ob ich ein drittes Auge hätte. Aber auch der Prozess der Entstehung fasziniert mich. Wie die feuchte Farbe glänzt, wie sie langsam wegtrocknet.

Ich liebe Dynamik, die Dinge in Bewegung zu bringen. Wenn eine Frau auf einem Bild ein Bein anwinkelt, rennt sie ja aus Sicht des Betrachters nicht automatisch los. Das erkennt man erst, wenn ich sie in Beziehung zu einem Gegenstand auf der Leinwand setze. Übrigens: Auch Gipsskulpturen von Körpern finde ich fantastisch.

Sollte jemandem meine Kunst nicht gefallen, wäre das auch nicht schlimm. Aber wenn mir jemand Pinsel und Leinwand wegnehmen würde, das würde ich nicht ertragen. Seit ich das Malstudio habe, bin ich übrigens auch seltener krank. Ich brauche das Malen einfach zum Leben.“

Aufgezeichnet von Annette Kögel

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