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Sebastian Krämer – hier auf dem RAW-Gelände – hat viel über Berlin gesungen und tut das immer wieder.

©  Kitty Kleinst-Heinrich

Kiez-Spaziergang mit Sebastian Krämer: „Ich bin jeden Sonntag auf dem Flohmarkt am Boxi“

Chansonnier, Kabarettist, großer Kleinkünstler – seit 25 Jahren steht Sebastian Krämer auf der Bühne. Ein Spaziergang durch sein Viertel in Friedrichshain.

An einem Donnerstag um elf Uhr wacht Friedrichshain gerade auf. Die Obdachlosen im Park am Ostkreuz öffnen das erste Sterni, schnorren Vorbeigehende mit einem charmanten zahnlosen Grinsen um Zigaretten an, der Pizzabäcker in der Sonntagsstraße schiebt Bleche voll Pizza Salami und Margherita in die Auslage, und die wenigen Gäste, die vor dem Zebrano Café in der Sonne sitzen, rühren in ihren Kaffeetassen.

Die, die arbeiten müssen, sind längst schon weg. Stattdessen torkelt ein Mann oberkörperfrei, aber mit Jogginghose und einer Shorts darüber über die Kreuzung, dreht sich um die eigene Achse, hebt den Arm zum Hitler-Gruß. Niemand beachtet ihn.

Hier startet der Spaziergang mit Sebastian Krämer, und er startet verspätet. „Wär ich ein Künstler, wär ich so verpeilt“, singt sein Agent entschuldigend ins Telefon. Manchmal ist das eben so. Aus dem Bett wurde Krämer trotzdem nicht geklingelt, zumindest sieht er nicht so aus: Jeans und Jackett, darunter ein Hemd und eine Krawatte, aufwendig gebunden. „Die Basis ist ein amerikanischer Windsor“, erklärt Krämer, „und dann dreht man eben den kürzeren Teil um den längeren.“ Seit Jahren trägt er das so, der Knoten ist sein Markenzeichen.

Dort wo die Sonntagsstraße die Wühlischstraße trifft, liegt Jacques’ Wein-Depot. „Früher war das eine Videothek, World of Video“, sagt Krämer, „Darüber habe ich auch mal ein Lied gemacht, Hundert Schritte, die Anzahl der Schritte von mir bis hier.“ Er sagt Lied, statt Song und nennt Frauen Damen. Höflich und ein bisschen antiquiert, so wie alles an ihm: Sein letztes Album hat er auch als Kassette veröffentlicht.

Sebastian Krämer ist Chansonnier, oder Kabarettist, oder Liedermacher – oder einfach alles. Vor 25 Jahren fing er an, jetzt erscheint sein Rückblick, der auf keinen Fall ein Ende sein soll: 25 Lieder aus 25 Jahren. Fast 20 Jahre davon hat er in Friedrichshain verbracht, gründete das Zebrano-Theater, sang viel über Berlin, singt immer noch viel über Berlin.

Meist melancholisch: „Ich habe aufgehört komisch sein zu wollen“, sagt er, und bisher funktioniere das ganz gut. Wie findet er es, dass die Videothek jetzt eine Weinhandlung ist? „Jacques trifft man da nicht. Schöner wäre es, wenn das keine Kette wäre.“ Aber der Wandel ist unaufhaltbar. „Die Menschen, die vor zwanzig Jahren nach Friedrichshain kamen, haben die Veränderungen ja selbst vorangetrieben. Dazu gehöre auch ich.“

"Der erste Schritt ist immer der Flohmarkt"

Trotzdem ist es Krämer wichtig alles kleine, kiezige zu unterstützen. „Ich bin jeden Sonntag auf dem Flohmarkt am Boxi“, erzählt er, als er den Park betritt. „Ich kenne den Kassettenhändler gut, und finde hier immer etwas, das ich gerne kaufe.“ Und natürlich hat er dem Kassettenhändler auch eine seiner Kassetten vorbeigebracht. „Brauche ich etwas, ist der erste Schritt immer der Flohmarkt, dann kommt der kleine Kiezladen und erst am Ende Amazon.“

Flohmarkt ist heute keiner, auch kein Wochenmarkt, zu dem Krämer regelmäßig geht. Ein paar Menschen liegen auf der Wiese, die noch frühjahrsgrün ist, blinzeln in die Sonne. Einer sammelt Flaschen, läuft auf Krämer zu: „Hey, lass uns ein Foto machen.“ Dann erzählt er von seinem Film, den er gedreht hat: „Zwei Mal haben die mich abgezogen, beim dritten Mal habe ich es dann ganz allein geschafft.“

Krämer lächelt, wünscht einen schönen Tag. „So, Bürgernähe bewiesen“, sagt er als der Mann außer Hörweite ist, lacht kurz. Würde er als Politiker kandidieren, dann für die Piraten. Gibt es die eigentlich noch? „Falls nicht, dann erst recht.“

Vom Boxhagener Platz geht es weiter zum RAW-Gelände, hier ist Sebastian Krämer nur tagsüber. Vor allem dann, wenn Flohmarkt ist, hier interessieren ihn am meisten all die Buden, die Essen verkaufen. „Durchzechte Nächte sind nicht mein Ding, manchmal arbeite ich durch.“ So geschehen beim letzten Album, obwohl es eine Zusammenstellung alter Songs ist, hat er viele davon neu aufgenommen. Upcycling seiner eigenen Kunst. Die Wiederverwertung ist ihm überall wichtig.

Auch seine Kleidung kauft Krämer meist gebraucht, dafür braucht er Kelly Zehe, seine Schneiderin. „Leider verstehen die meisten Änderungsschneidereien einfach nicht was ich möchte“, klagt Krämer, „und Kelly ist inzwischen wahnsinnig ausgebucht.“ Der Weg zu Kelly führt durch die Schmucktore der Knorrpromenade: „Da haben sich wirklich reiche Menschen einfach gedacht, wir stellen jetzt Tore auf“, lacht Krämer und bewundert die Steingebilde, die wie Wärter vor der kleinen Straße stehen.

"Das ist für mich Kiez"

Das Schneiderzimmer liegt in einer gewöhnlichen Wohnung, von draußen ahnt niemand, dass hier Mode gemacht wird. Manchmal muss Kelly Zehe zwei Stunden vor einem Auftritt noch schnell einen Frack für Krämer flicken, oder ein Sakko anpassen. Als sie ihn sieht ruft sie „Ach, das Jackett habe ich doch auch für dich gemacht.“ Seit zehn Jahren kennen sie sich, über die Kinder, inzwischen muss Krämer kaum noch erklären, was aus seinen Flohmarktfundstücken werden soll.

„Das ist für mich Kiez“, sagt er beim Rausgehen, „dass man sich kennt und Konstanten hat.“ Draußen dann ein kurzer Schreck: Sein alter Friseur sieht aus als sei er geschlossen. Ist er auch, aber nur heute, nicht für immer. Kiez sind auch die zahlreichen Restaurants, die die Wühlischstraße säumen.

Die Datscha, wahrscheinlich Berlins bekanntestes russisches Restaurant, und das Pasta Presti, ein kleiner Nudelladen, der „ausgefallene Formen und Sorten“ hat, wie Krämer ihn anpreist. Die Dame hinter der Theke freut sich, als er hereinkommt: „Du warst lange nicht mehr hier. Seid ihr noch in Friedrichshain?“ Natürlich sei man noch hier, Krämer verspricht bald mal wieder zu kommen, und lässt sich noch schnell die Nudelsorten erklären.

Der Spaziergang endet wieder vor dem Zebrano-Theater. Interessiert schaut Krämer auf die Plakate, die ankündigen, was bald kommt. „Alles toll, alles tolle Künstler.“ Er selber spielt fremd: Sein neues Programm führt er in der Bar jeder Vernunft auf. „Und wenn wir schon mal da sind, machen wir dort auch direkt den Clubabend.“ Damit meint er seinen Club Genie und Wahnsinn, der normalerweise im Zebrano ist. So ist das am Ende auch mit Berlin: Wenn man schon mal da ist, kann man auch bleiben.

Sebastian Krämer: 25 Lieder aus 25 Jahren, Bar jeder Vernunft, 29. Mai bis 2. Juni, jeweils 20 Uhr, Karten 19,90 bis 34,90 €

Julia Kopatzki

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