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Berlin: Klaus Schottenheim (Geb. 1972)

Seine erste Bleibe in Berlin war der Hygienecontainer am Bahnhof Zoo

Sein Foto steht neben der Jesusfigur. Die Kapuze hat er darauf ins Gesicht gezogen, die Glühweinflasche erhoben wie für ein letztes Prost. Davor sitzen elf seiner Freunde, sie stoßen nicht an, sondern haben die Hände gefaltet, über ihren gesenkten Köpfen fährt rumpelnd eine S-Bahn ein. Die Zeit, in denen hier im Bahnhof Zoo die einen in Fernzügen verschwanden und die anderen weinend zurückblieben, sind vorbei, zumindest oben auf den Bahnsteigen, die Tränen fallen heute ein Stockwerk tiefer in der Bahnhofsmission. Norbert, der Bart grau, das Taschentuch auch nicht mehr ganz weiß, ist gekommen, um Abschied von seinem Freund Klaus Schottenheim zu nehmen – dem Mann, dessen Foto vorne auf dem Tisch neben Jesus abgestellt ist. Ein paar Meter weiter steht ein Regal, darin sind Bücher wie „Der Vagabund“, aber auch ein „Nesthäkchen“-Band. Klaus Schottenheim, geboren in Pfaffenhofen, genannt der Bayer, war beides – ein Herumtreiber und mit 39 Jahren zu jung für den Tod.

Als Schottenheim vor einigen Jahren nach Berlin kam, war seine erste Bleibe kein Hotel und kein Sofa bei Freunden, sondern der Hygienecontainer am Bahnhof Zoo, mit Toilette und Dusche für alle, die sich morgens schon lange nicht mehr prüfend im Spiegel ansehen. Doch weil es in Berlin weniger Notunterkünfte als Obdachlose gibt, passierte das, was man in anderen Kreisen kreative Umnutzung nennen würde: Die Obdachlosen machten den Container zu ihrem Schlaf- und Aufenthaltsraum, dicht an dicht lagen sie dort, Klaus Schottenheim meist in der Duschtasse. Als der Container abtransportiert wurde, musste er umziehen. Der Ullrich-Supermarkt, wo es den Liter Glühwein für 1,35 Euro gibt, wurde zu seinem Wohnzimmer, die Bahnhofsmission zum Esszimmer, und ein paar Schritte in den Tiergarten hinein, unterhalb der Bahnbrücke, lag sein neues Schlafzimmer. Die Infrastruktur ringsherum: ein Schönheitssalon, geschlossen und schon leer geräumt, gegenüber die Bundespolizei, eine Ecke weiter ein Spritzenautomat. Unter ihm die kostengünstige Variante eines Grabmals: ein Stein, der aussieht, als stamme er von einer Baustelle, darauf ein Name, ein Datum, ein Kreuz und ein Herz, geschrieben mit schwarzem Filzstift.

Bestimmt stand auch Klaus Schottenheim manchmal an diesem Automaten. Er war das, was man nach dem internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten als polytoxikomanisch bezeichnet. Einfacher könnte man sagen: Schottenheim nahm alles, was knallt.

Seine elf Freunde trinken am Tag der Trauerfeier Multivitaminsaft. Aufrecht sitzend hören sie zu, wie der Pfarrer Manfred Herbrechtsmeier von einem Leben erzählt, das aus Hinfallen und Aufstehen bestand, wobei das Hinfallen häufiger und das Aufstehen immer mühsamer wurde.

Von den 39 Jahren, die Schottenheim lebte, verbrachte er etwa zehn im Gefängnis, zuletzt kam er 2011 wegen wiederholten Schwarzfahrens in den Knast – und hatte damit über Monate hinweg einen trockenen, warmen Schlafplatz fernab vom Alkoholregal des Supermarkts. Gut habe er ausgesehen, als er wieder herauskam, sagen die, die ihn kannten, jünger und hübscher. Endlich hatte er keine fremden Substanzen mehr im körpereigenen System, dafür fand er Platz in einem neuen, von der Bahnhofsmission entwickelten System. Mobile Einzelfallhilfe lautete der sperrige Name. Ralf Sponholz, der sich in diesem Rahmen um Schottenheim kümmerte, beschreibt die Idee dahinter so: „Wir haben diejenigen, die allein oft in die falsche Richtung gehen, Tag für Tag fest an die Hand genommen.“

Bei Schottenheim musste er seinen Griff jedoch bald wieder lockern. Die Einzelfallhilfe wurde aus Kostengründen abgeschafft, Sponholz sah Schottenheim nur noch unregelmäßig, das letzte Mal in den Mittagsstunden vom 13. Juni. Da machte Schottenheim so einen schlechten Eindruck, dass Sponholz sich mit ihm noch für denselben Abend verabredete, Punkt zehn, gleich zu Beginn seines Nachtdienstes. Doch als es soweit war, stand statt Schottenheim einer seiner Freunde vor der Bahnhofsmission und sagte: „Wir brauchen eine Kerze, der Bayer ist tot.“ Mit mehr Zeit, sagt Sponholz, wäre das nicht passiert.

Auch der Pfarrer spricht auf der Trauerfeier von der Bedeutung der Zeit. Er benutzt Bibelworte, sagt, dass alles seine Zeit habe, doch auch als er schon aufgezählt hat, was alles nach dem Weinen kommt, das Lachen und Tanzen etwa, weint Norbert noch. Bevor er zurück auf die Straße geht, steckt er noch eine Kopie des Fotos ein, das neben der Jesusfigur steht – sein Freund, in der Hand die erhobene Flasche mit der Aufschrift „Christkindl Glühwein“. Darunter ist ein kleines Bild: Es ist tiefe Nacht, im Schnee stehen einige Kinder, in ihrer Mitte schwebt ein Engel, der einem Jungen gerade ein Geschenk überreichen will. Erwartungsvoll streckt dieser die Arme zum Engel hoch, frieren muss er trotz der Kälte nicht. Seine Hände stecken in Fäustlingen, an den Füßen hat er warme Schuhe. Klaus Schottenheim ging zuletzt barfuß. Verena Friederike Hasel

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