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Kreuzberg: Immer gleich auf den Barrikaden

Was ist bloß mit den Kreuzbergern los? Ob Mediaspree, Bethanien-Besetzung oder Privatschul-Ansiedlung – ohne Protest geht’s nicht.

Protest? Aber immer! Für Protest und Widerstand gibt es in Kreuzberg immer Gründe. Behördenhandeln ist verdächtig. Ob Bürobauten gebaut oder Bäume gefällt werden – darüber haben hier nicht irgendwelche Politiker zu entscheiden. In Kreuzberg entscheidet das Volk.

Und das Volk findet immer einen Weg, denen im Rathaus oder im Senat das Kreuzberger Verständnis von Basisdemokratie und Bürgerbeteiligung nahezubringen. Bethanien, McDonald’s, Mediaspree, Bäume am Luisenstädtischen Kanal, eine Privatschule im Bergmannstraßenkiez, die „Subway“-Filiale an der Schlesischen Straße – immer gibt es Gründe für Protest und Widerstand, und genug Leute dafür. Irgendeiner rebelliert immer in Kreuzberg, irgendwas wird immer bekämpft.

Bethanien: Das große alte Gebäude am Mariannenplatz mit dem Künstlerhaus darin sollte privatisiert werden. Tatsächlich ist es besetzt, seit ein paar Jahren schon. Christoph Tannert vom Künstlerhaus sucht voller Frust über nachgiebige Politiker und unnachgiebige Besetzer einen anderen Ort in Kreuzberg. Die Besetzer verhandeln über Gewerbemieten in Höhe von drei oder vier Euro. Seit dreieinhalb Jahren beschäftigt sich die Kreuzberger Politik mit dem Konflikt. Bislang funktioniert er nach dem Prinzip, dass Kessheit siegt. Eine bürgerbewegte Kreuzbergerin, die mit den Besetzern nichts zu tun hat, sagt zu deren Verteidigung: Immerhin hätten sie einen Anteil daran, dass Bethanien nicht privatisiert werden konnte.

Oder Mediaspree. Das von einem grünen Bezirksbürgermeister begleitete Großvorhaben strandete in einem Bürgerbegehren. Damit setzten sich diejenigen durch, die am Spreeufer möglichst wenig Veränderung, möglichst viel Frei- und Spielraum bewahren wollen. Biertrinken unter freiem Himmel, freier Flussblick, von einem alten Sofa aus genossen, ein Feuerchen brennt – das ist vielen Kreuzbergern mehr wert als die versprochenen Mediaspree-Arbeitsplätze. Kreuzberg gehört mit seiner anderen Bezirkshälfte Friedrichshain zu den ärmsten Bezirken Berlins.

Woher kommt der Hang zu Widerborstigkeit? Dieses Sichsperren und -Sträuben gegen Entwicklungen? Warum ist Kreuzberg der Hort der Anti-Politik-Politik?

Kreuzberg will Kreuzberg bleiben. Kreuzberg sperrt sich gegen eine Runderneuerung, die den proletarisch-anarchistischen Kiez zu teuer macht, zu interessant für Spekulanten und Touristen. Kreuzberg will proletarisch und anarchistisch bleiben. Diese Haltung stützt das grün-linke Bezirksamt so wenig wie der links-linke Senat. So ist die Kreuzberger Anti-Politik-Politik immer noch im Herzen links, proletarisch, anarchistisch. Vor allem aber ist sie strukturkonservativ. Die Vergangenheit war schön. Von der Zukunft weiß man nicht, was sie bringt. Man ahnt nur, dass sie teuer wird.

Die Autorin Iris Hanika lebt seit fast dreißig Jahren in Kreuzberg 36. Ihr Roman „Treffen sich zwei“ spielt in Kreuzberg. Iris Hanika beschreibt diesen neuen Kreuzberger Konservatismus am Beispiel einer großen Grünfläche im ehemaligen Luisenstädtischen Kanal. Kaum war bekannt geworden, dass die Fläche nach historischem Vorbild restauriert werden sollte, hingen überall Zettel. „Versammlung“ habe darauf gestanden, sagt Hanika. Aufgerufen wurde diesmal zum Protest gegen die Veränderung der Grünfläche. Das Ziel der Protestler: Es sollte bleiben, wie es war. Was aber war diese Fläche, fragt die Autorin mit Zorn in der Stimme: „Ein Hundeklo!“

Iris Hanika hat vor Jahren, als Kreuzberg gerade mal out war und alle von Mitte schwärmten, einen wunderbaren Text, „Kreuzberg zur Verteidigung“, geschrieben. Der neue Grünflächenkonservatismus, dem ein Hundeklo lieber ist als historiengemäße Herrichtung, hat für sie etwas Typisches für ihre Heimat SO 36: „Was gewollt ist, ist die alte Ruinenlandschaft.“ Die Hausbesetzerbewegung sei „segensreich“ gewesen – ohne sie wäre alles verrottet. „Aber man misstraut allen Offiziellen, die etwas herrichten wollen.“

Wenn Silke Fischer mit im Café Obermeier am Tisch gesessen hätte, dann hätte sie energisch widersprochen. Stimmt nicht, würde Silke Fischer sagen, es geht um etwas anderes. Silke Fischer und Iris Hanika haben viel gemein. Sie sind fast gleich alt, gut Mitte vierzig. Sie kamen aus dem fernen, geordneten Westen vor vielen Jahren in die Brachen-Metropole West-Berlin, in die große Sperrstunden- und Experimentierfreiheit. Beide zog es nach Kreuzberg, in die Hausbesetzerszene. Beide verbinden starke, schöne Erinnerungen mit dieser Zeit, mit der Bewegung, mit der Intensität des Lebens und der Konflikte von damals. Beide sind Herzens-Kreuzbergerinnen.

Doch Iris Hanika versteht nicht, warum die „Herrichtung“ eines Grünzugs Widerstand und Protest provoziert. Dagegen versteht Silke Fischer nicht, was sie sich im Bezirksamt einbilden. Der Grünzug am Luisenstädtischen Kanal soll à la 1929 restauriert werden – auf Kosten der jüngeren Kreuzberger Geschichte, in der die Bürger die Grünfläche sozusagen in Besitz genommen haben? Da muss Protest doch wohl sein, oder?, sagt Silke Fischer, die zum Quartiersrat der Gegend um das Kottbusser Tor gehört.

Der Eigensinn war immer die Kreuzberger Fundamentaltugend. Sie war immer da, sie wurde immer dringend gebraucht. Martin Düspohl hat einige Ausstellungen über die Wirkung dieser Tugend gemacht, im Kreuzberg-Museum, wo sonst? Frei nach Düspohl gibt es zwei Kreuzberger Gründungsmythen. Der eine ist von historischem Gewicht: „Seit dreihundert Jahren“, so Düspohl in einem Aufsatz für das Buch „New York – Berlin, Kulturen der Stadt“, „tauscht sich die Bevölkerung in jeder Generation einmal aus. Die älteren Bewohner sind in der Regel immer Einwanderer in irgendeiner Form gewesen, die Kinder und Jugendlichen hier geboren.“ Dass Kreuzberg ein Einwandererbezirk war, hing mit den großen Bahnhöfen zusammen. Leute kamen, auf der Suche nach Arbeit, nach religiöser oder weltanschaulicher Freiheit. Sie suchten sich in der Nähe der Bahnhöfe ein billiges Quartier. Sie taten sich mit anderen zusammen. Sie setzten, auch im Streit mit der Obrigkeit, religiöse oder anders begründete Rechte durch: Eigenartigkeit als Tugend.

Die zweite Gründung war Sache der Türken und der Besetzer. Der Mythos wirkt bis heute, und zwar kräftig. Als halb Kreuzberg leer stand und zur Beute von Spekulanten und Stadtplanern gemacht werden sollte, wurde es neu besiedelt: von jungen Frauen und Männern aus Wessiland – unter anderen Silke Fischer, Iris Hanika und Wolfgang Wieland von den Grünen – sowie von jungen Männern und Frauen aus der Türkei. Die einen wollten billig wohnen, um ihr Geld sparen zu können. Die anderen wollten billig und groß wohnen, in neuen Formen und Zusammenhängen, testweise ohne Wände und Türen.

Das war der neue Kreuzberg-Sound: „Nehmen wir sie beim Wort“, die Politiker, ihre Versprechen, ihr Gerede. In Kreuzberg ist die Zahl derer, die sich gern mit der etablierten Politik anlegen und lieber selbst Politik machen, deutlich höher als in anderen Bezirken. Es sind Leute wie Silke Fischer, die als Organisatorin des Myfest bekannt geworden ist. Mit einem Fest der Leute, der Kreuzberg-Bewohner – gegen die rituelle Randale der Chaoten und die handfeste Antwort der Polizei darauf: Das sagt eigentlich alles. Jetzt ist sie beim Protest gegen die Wiederherstellung des Luisenstädtischen Kanals dabei. Wie kommt so was zustande? Durch „Zettelkleben, wie üblich“, sagt die schlanke Frau. Dann gibt es eine Versammlung nach dem Motto „Leute, wir müssen reden“. Und schon gibt es eine Protestbewegung. Weil das eben so sein muss: „Es ist den Leuten hier nicht scheißegal, wie sie leben“, sagt Silke Fischer.

Politik ist immer, und weil sich Kreuzberg wieder verändert, ist Politik gegen diese Veränderung so wichtig wie 1973 Politik gegen Spekulanten. „Soziale Entmischung“ sagen die einen, „Gentrifizierung“ sagen die anderen. Für beides stehen „Mediaspree“, der Verkauf vieler alter Häuser überall in Kreuzberg, die steigenden Mieten. Das alles sprengt die Kreuzberger Strukturen. Es fühlt sich schlecht an. Für Ulrich Peltzer, den Autor von „Teil der Lösung“, einem Roman über das neue Berlin, zeigt sich die Entmischung in einem seiner Lieblingscafés, dem „Bateau Ivre“ am Heinrichplatz. Im Sommer, sagt er, hätten wir hier nicht so sitzen können. Wegen der dänischen Touristen. Wegen der spanischen und italienischen Bürgerkinder. Deren Eltern kaufen oder mieten Wohnungen in Kreuzberg, weil es hip ist. Wie die Dänen, Schweden, Norweger zahlen sie Preise, bei denen die Normal-Kreuzberger nicht mitkommen.

Ulrich Peltzer, seit 1987 Kreuzberger mit New Yorker Unterbrechungen, ist ein gutes Beispiel eines eher linken, vielleicht deshalb konservativen Kreuzbergers. In New York hat er gesehen, wie schnell Viertel unbezahlbar werden, wenn das Geld sich in die Szenegegend hineinkauft. In Kreuzberg passiert derzeit Ähnliches. Wenn auf der Oranienstraße in Klamottenläden 100 Euro für einen Pullover verlangt werden, ist das ein schlechtes Zeichen. Wenn ein Laden ayurvedische Lebensmittel anbietet, ist das ein schlechtes Zeichen.

Peltzer hat lange genug als freier Autor gelebt, bevor „Teil der Lösung“ zu einem Erfolg wurde, um zu wissen, dass freie Autoren zur Bewahrung ihrer Freiheit auf preiswerte Mieten angewiesen sind. Die Dänen, die im Sommer das Bateau Ivre besetzen, beschimpft er als „sozialdemokratische Wohlstandsspießer“. Den Grünzugrestauratoren hält er entgegen, sie wollten es „repräsentativ“ und opferten dafür eine Rasenfläche: „Niemand will das haben!“, sagt er.

Das ist Kreuzberger Gesinnung. Silke Fischer sagt es etwas anders und meint das Gleiche: „Wir wollten nie am Markt sein.“ Das ist in Kreuzberg noch immer des Volkes Mehrheitsmeinung.

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