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Berlin: Kreuzchen vor der Kabine

Mehrere tausend Russen wählten gestern ihr neues Parlament in der Botschaft Unter den Linden

Von Sandra Dassler

Lenin durfte nicht wählen. Er hatte den Pass vergessen. Traurig stand er vor der Russischen Botschaft Unter den Linden, in der gestern über 2500 Menschen ihre Stimme für ein neues russisches Parlament abgaben.

Lenin heißt in Wirklichkeit Boris Jakowlek und wohnt in der Lutherstadt Wittenberg. Er ist ein Schalk, hat sich für die Wahl einen Lenin-Bart wachsen lassen und sich den langen Mantel sowie die typische Mütze besorgt. Dass er wegen des fehlenden Passes nicht für die Partei Einiges Russland von Präsident Putin votieren konnte, bedauert Jakowlek sehr. Seit der Kremlchef sei, wären die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland viel besser geworden, begründet er seine Begeisterung.

Auf dem Fußweg vor der Russischen Botschaft hört man aber auch andere Meinungen. „Putin – das ist Staatssicherheit“, sagt Tania Iwanowa, eine attraktive Mittsechzigerin. „In Russland gibt es keine Demokratie“, meint Iwan Sidorow. Beide sind 1999 nach Berlin gekommen, weil es ihnen, erzählen sie, in Sankt Petersburg wirtschaftlich immer schlechter gegangen sei. Freimütig offenbaren sie, dass sie die liberale Jabloko-Partei gewählt haben.

Überhaupt scheinen viele Russen das Wahlgeheimnis nicht so eng zu sehen. Die Vorhänge zu den drei Wahlkabinen im großen Saal der Botschaft schließen nur wenige. Viele stellen sich gar nicht an, sondern machen das Kreuzchen auf ihren Knien oder auf einer Sessellehne.

„Es sind viel mehr Menschen zur Parlamentswahl gekommen als bei der letzten vor vier Jahren“, sagt Botschaftssprecher Swjatoslaw Kutschko. Damals waren es knapp 2000. Im Bereich, den die Botschaft wahltechnisch betreut, also in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, leben mehr als 53 000 russische Staatsbürger.

Gegen 19 Uhr erwarte man Hochrechnungen, doch die Botschaft bleibe bis 20 Uhr geöffnet, sagt Kutschko. Ein TV-Gerät läuft neben dem Tisch, an dem sich die Wähler registrieren lassen: Alte, Junge, Familien mit Kindern, auch viele Menschen mit asiatischen Gesichtszügen. Landysch Nigmatullina etwa ist Tatarin. Die junge Frau arbeitet als Au-Pair-Mädchen in Berlin, ihre Freundin Maria Vaskova studiert an der Viadrina in Frankfurt (Oder). Die beiden lachen viel, wollen ansonsten nichts sagen. Ein junger Künstler tut dies umso deutlicher: Russland sei schrecklich, sagt er, und erntet böse Blicke von Umstehenden. Anscheinend überwiegen auch hier die Putin-Anhänger – wobei die Russen in Berlin beim letzten Mal ein wenig mehr Stimmen für die liberalen Parteien abgegeben haben als ihre Landsleute zu Hause. Sandra Dassler

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