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Berlin: Lernziel: über den Tellerrand schauen

Die Lichtenberger Puschkin-Gesamtschule hat ein interkulturelles Konzept. Trotz hohen Ausländeranteils ist die Schule sehr erfolgreich

Es ist eine etwas abwegige Frage, die dem Besucher als erstes in den Sinn kommt: Wie viele Balkons sind es wohl, von denen aus man freie Sicht auf den Schulhof hat? 800, 1000 oder 1500? Die Alexander-Puschkin-Schule in Lichtenberg, ein nüchterner DDR-Bau, ist geradezu eingekesselt von Plattenbauten, die man nach der Wende mit ein bisschen Farbe – es gibt rote, gelbe, grüne und blaue Balkons – zu verschönern versucht hat.

Betritt man das Schulgebäude, könnte der Gegensatz kaum größer sein. Plötzlich ist man in der großen weiten Welt. Einer der Flure wurde unter Anleitung eines mosambikanischen Malers in schillernden Farben verschönert, andere mit Fotowänden aus Polen, der Türkei und Usbekistan aufgepeppt. Ökomode, Trommeln und Skulpturen sind im Gebäude ausgestellt. Besucht wird die Lichtenberger Gesamtschule, die sprachlich wie künstlerisch interkulturell arbeitet, von 540 Schülern.

Es gibt fünf spezielle Förderklassen für Neuankömmlinge, die wenig oder gar kein deutsch sprechen (siehe Interview). Viele stammen aus der ehemaligen UdSSR, andere aus Vietnam, der Türkei oder verschiedenen Ländern Afrikas. Eine Partnerschule steht in Mosambik, mit verschieden Ländern findet Schüleraustausch statt. Die Oberschule hat „offenen Ganztagsbetrieb“. Unterrichtsende ist spätestens um halb vier; bis 17 Uhr ist der Schulclub geöffnet. Die 30 Arbeitsgemeinschaften ziehen sich bis in die Abendstunden. Fremdsprachen sind außer Englisch Russisch und Französisch.

Das Besondere: Susi Sauter, 16, findet die Frage nach ihren Mitschülern nicht deutscher Herkunft geradezu absurd. Ehrlich gesagt, sagt sie recht überzeugend, hätte sie keine Ahnung, wie viele es seien oder woher sie kämen. „Das spielt überhaupt keine Rolle“, konstatiert sie, „es macht nämlich überhaupt keinen Unterschied.“ Einige ihrer besten Mitschüler seien Russen oder Türken: „Offenbar sind die motivierter als die meisten Deutschen.“ Im Russisch-Unterricht wiederum sei sie besser als manche Aussiedlerkinder: „Die denken, sie können alles und schludern beim Schreiben. Ich habe Russisch wirklich konzentriert gelernt und mache nicht so viele Fehler.“

So einfach ist das also offenbar nicht mit den Stereotypen. Fest steht jedenfalls: An der Schule werden mit fast einem Drittel relativ viele Schüler nicht deutscher Herkunft unterrichtet. Und mit über einem Drittel Gymnasialempfehlungen ist sie eine äußerst erfolgreiche Gesamtschule. Auch Abbrecher gibt es kaum. Im vergangenen Schuljahr haben nur zwei Schüler die zehnte Klasse nicht abgeschlossen.

Geschafft hat die Schule dies mit einem äußerst interessanten Profil, das nicht nur Besucher, sondern vor allem Schüler fasziniert. Erstens wird enorm viel Wert auf Sprache gelegt, und zwar nicht nur auf die deutsche. Schon ab der 7. Klasse können Schüler sechs Stunden lang ihre zweite Fremdsprache – Russisch oder Französisch – lernen. Dazu kommt ein großer Wahlpflichtbereich Kunst/Musik, der sich in jedem Halbjahr einer neuen Weltregion widmet. In der siebten Klasse zum Beispiel sind Afrika und Lateinamerika dran. Sechs Stunden pro Woche lernen die Schüler nicht nur etwas über Küche, Kunst und Kultur, sondern auch über Religion, Politik, Ökologie der jeweiligen Region. Regelmäßig kommen Gäste aus dem Ausland.

Die Idee: Das Konzept ist ebenso simpel wie einleuchtend. „Die Welt ist größer geworden“, sagt der pädagogische Koordinator Udo Franke, „für viele hat sich das Leben schon einmal woanders abgespielt – oder es wird in Zukunft woanders als im kleinen Lichtenberg stattfinden. Wir wollen, dass die Schüler rechtzeitig über den Tellerrand gucken.“

Bleibt die Frage, wie man bei soviel Kunst, Musik, Theater und Schüleraustausch auch noch das seit Pisa so massiv eingeforderte Lesen/Schreiben/Rechnen eingebimst bekommt. Denn auch das, dafür sprechen jedenfalls die Zeugnisse der Schüler sowie die Erfahrungen, die sie auf der Oberstufe machen, scheint zu funktionieren. „Wenn Schüler interessiert sind“, sagt die Schulleiterin Lilia Orlamünder, „dann lernen sie auch effektiv.“ Und natürlich findet neben den Wahlpflichtbereichen ganz normaler Unterricht statt.

Schüler und Eltern: Susi Sauter jedenfalls kommt jeden Morgen bereitwillig aus Neukölln angereist. „Ich glaube das A und O ist, dass die Lehrer Lust haben, sich für die Schüler einzusetzen“, sagt sie. „Wenn man spürt, dass man jemandem wichtig ist, kommt man auch nicht so schnell auf die Idee die Schule nicht ernst zu nehmen.“ Auch für Eltern ist das ein Argument: „Nicht nur meine Tochter fühlt sich dort fair behandelt“, sagt Heike Schmidt, „auch ich kann mich darüber austauschen, ob es Probleme gibt – und wenn ja, welche“.

Jeannette Goddar

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