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Berlin: Lutz Schreier (Geb. 1941)

Sollten andere vom Wetter berichten, ihn zog es mitten hinein!

Was für’n Horizont“, seufzte Lutz Schreier als kleiner Junge, wenn seine Mutter mit ihm und dem Bruder rausfuhr nach Lübars, einem der wenigen Flecken West-Berlins, die über einen Kartoffelacker verfügten. Nun darf man nicht glauben, dass Lutz Schreier ein wolkensüchtiger Luftikus war. Er reparierte gerne Dinge, gab weniger gerne Mitteilungen aus seinem Innenleben heraus und stand mit seinem großen und schweren Körper fest auf dem Boden. Doch muss es irgendein Gen im Schreier’schen Erbgut geben, das bei aller Erdverbundenheit nach himmlischen Weiten verlangt.

Sein kleiner Bruder interessierte sich zwar weniger für den Horizont von Lübars, doch bejubelte er jedes amerikanische Militärflugzeug, das über die Steglitzer Dächer hinwegdonnerte. Er überredete Lutz beinahe täglich, mit ihm zum Flughafen Tempelhof zu wandern und dort den startenden Flugzeugen hinterherzuträumen.

Während der jüngere folgerichtig Steward wurde, lernte Lutz Schreier Elektroinstallateur. Doch die Kabel führten den ohnehin zurückhaltenden Lutz immer weiter in die Einsamkeit, bis er sich schließlich in der „Landfunkstation Norddeich“ wiederfand. Hier saß er vor Zeigern, Schaltern und Antennensteckfeldern, morste den Schiffen die neuesten Wettermeldungen zu und dachte an das West-Berliner Programm „Kinder in Licht, Luft und Sonne“. Da war er manchmal als Betreuer mitgereist, etwa zu Zeltlagern nach Schwanenwerder. Sollten andere vom Wetter berichten, ihn zog es mitten hinein!

So wurde aus dem Elektriker ein Sozialarbeiter, einer, der für sein friedfertiges Wesen von den Heimkindern gemocht wurde und für seine Ausflüge bald viel Aufmerksamkeit bekam: Warum fuhr der so oft in die DDR?, so fragten Beamte aus Ost und West. Die Antwort hieß: Wegen des Schiffshebewerks in Niederfinow. Wegen der schönen Seen. Und wegen der Horizonterweiterung. Denn der Horizont, der hörte nicht auf, ihn zu locken, nur weiter, immer weiter hinaus! Der Grand Canyon, Nevada, Texas, über viele Jahre hinweg waren es die Landschaften Amerikas, von deren Großzügigkeit und Weite das Mauerkind gar nicht genug bekommen konnte. Später ließ er sich von der Asien-Begeisterung seines Bruders anstecken und flog oft nach Thailand, hier war es die Großzügigkeit der Leute, die ihn ins Staunen versetzte.

Mitte der siebziger Jahre wurde er einziger Sachbearbeiter des Gebiets „Kinder- und Jugenderholung“ des Bezirksamts Steglitz. Wenn er nicht im Kinderheim, auf einem Zeltlager oder in Asien weilte, dann lebte er mit seinem Bruder in einem Gartenhaus auf einem Laubengrundstück, das ihnen mehr als Acker denn als Garten diente. Regelmäßig luden sie ihre thailändischen Freunde zu Gegenbesuchen ein, ließen sie ihre selbst gezogenen Kartoffeln bestaunen, spendierten Sprachkurse, fuhren mit ihnen hinaus aus West-Berlin in die DDR und nach Westdeutschland.

Aus Lutz, dem stillen Kind, war ein großer Reisender geworden, der den Bruder manchmal an Karl May erinnerte, denn er mischte in seinen Berichten die tatsächlichen Breitengrade gerne mit denen seiner Phantasie. Eine Frau, so glaubte er bis zu seinem 45. Lebensjahr, passte nicht zu seinem Abenteuerleben.

Bis er Astrid traf und ihren vierjährigen Sohn Jérome. Mit ihnen begann die Reise in ein ganz neues Land: die Liebe zu einer Frau und einem Kind. Was nicht bedeutete, dass er sein altes Leben aufgab. Immer wieder suchte er neue Ziele, wandelte mal auf den Pfaden der Inkas, mal durch brandenburgische Klöster, und zuletzt durch Kambodscha, nie mehr als ein winziges Köfferchen mit sich tragend, in dem sich das Allernötigste befand.

„Man kann in den Himmel gelangen, wenn man die Treppe hinaufsteigt“, schrieb er in einer Mail über einen Tempel in Angkor. „Die Stufen sind schmal und hoch, aber man kommt voran. Der Himmel ist erreicht und man fühlt sich frei und unbeschwert… Irgendwann will man jedoch auf die Erde zurück und sucht die Leiter. Sie ist verschwunden … Man steht vor einem Abgrund ... Da sitzt eine Frau auf dem Hintern …Wie kann die Frau dort sitzen? Oder ist das ein Engel? Quatsch! Also eine Technik entwickeln, wie ein nicht mehr schwindelfreier Lutz hinunterkommt.“

Dies waren die letzten Worte, die seine Freunde erreichten. Er starb in seinem Hotelzimmer in Thailand, die Obduktion verlief ergebnislos, wahrscheinlich war es die Höhenluft, die seinem Herzen zu schaffen gemacht hatte. Seine thailändischen Freunde bahrten ihn auf in einem Meer aus Blumen, und gaben ihn erst frei, nachdem ein buddhistischer Mönch Lutz Schreiers Seele aus dem Körper hinausgeleitet hatte. Anne Jelena Schulte

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