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Berlin: Malerischer Lebensabend

„Kunst, Zeit, Alter“ ist ein einzigartiges Projekt, das hochbetagten und kranken Menschen in Pflegeheimen hilft, ihre Würde auch im Alter zu bewahren

Herbstblätter in grünen, gelben und braunen Farben hängen an der Staffelei. Kastanien, Äpfel und kleine Kürbisse liegen um eine Kerze herum auf dem Tisch. Mittendrin stehen zwei Töpfe mit Erikapflanzen und ihren violetten Blüten. Leise läuft im Hintergrund Musik: „Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder, und der Herbst beginnt.“

Das ist die Kulisse eines einzigartigen Projektes für Menschen, die den Herbst des Lebens längst erreicht haben. Erna Strack ist 97 Jahre alt und hat es am Herzen – wie auch die 88-jährige Frieda Jaenicke neben ihr. Bei Marion Hauboldt, 80 Jahre, macht sich eine beginnende Demenz bemerkbar. Käthe Herrmann, 94 Jahre, leidet an fortgeschrittener Demenz. Elisabeth Becker, 78 Jahre, hat Asthma und sieht fast nichts mehr. Einige der sorgsam frisierten und zurechtgemachten Frauen sind mit dem „Mercedes" gekommen – ihren Gehhilfen. Kaum haben sie am Herbsttisch Platz genommen, tauchen sie in eine Welt, in der ihr Heimalltag draußen bleibt. Es ist eine Welt, in der sie nicht nur versorgt werden, sondern aus der Reserve gelockt werden und gefragt sind, bis sie rote Wangen kriegen.

„Meine Lieben, erst einmal einen guten Tag. Ich freue mich, dass Sie alle rausgekrabbelt sind.“ So begrüßt sie ein junger Mann, der ihr Enkelsohn sein könnte. Es ist Jörg Frey, freiberuflicher Maler, Grafiker und Privatlehrer. Der 40-Jährige leitet im Seniorenheim „Haus Malta“ an der Heerstraße, das an das Malteser-Krankenhaus angegliedert ist, ein Pionierprojekt. „Kunst, Zeit, Alter“ nennt er die Verbindung von Malerei und Gestaltungstherapie, mit der er hochbetagten, somatisch und psychisch kranken Menschen eine Brücke bauen will gegen Isolation, Kontaktunfähigkeit, den Verlust an Selbstwertgefühl, mentales Abschalten, Verlustängste oder Hilflosigkeit. An diesem Freitag ist es das Heidekraut, das einen Zugang zu ihnen schaffen soll.

Jörg Frey befestigt die Zeichenblätter mit Klebeband auf dem Tisch, damit sie nicht verrutschen. Einige Damen haben schon in der letzten Stunde mit ihrem Bild angefangen. Jede bekommt Pinsel, Farbe und Wasser. „Das ist doch eine schöne Sache, nicht?“, sagt Erna Strack, die Älteste der Gruppe, und entscheidet sich für einen blauen Hintergrund. Marion Hauboldt, die schon lange malt, bittet Frey um Ocker. Die Frauen arbeiten konzentriert, ab und an wechseln sie ein paar Sätze. Über „die Frau, die nicht mit uns essen tut“. Oder das Ratespiel neulich. „Wie heißt die Frau von Tarzan?“, wirft die fast blinde Elisabeth Becker in die Runde. „Frau Tarzan!“, verkündet sie und lacht.

Frey ermuntert Käthe Herrmann, die immer wieder vergisst, was sie gerade gemacht hat und lieber Buchstaben statt Blüten malt. „Ich helfe Ihnen ein wenig“, sagt er mit ruhiger Stimme. Sie beginnt, das Alphabet aufzusagen, beim achten Buchstaben fällt ihre Entscheidung. „Nehmen wir doch ein H“, sagt sie. „H wie Heidekraut“, bemerkt Frey. „Möchten Sie’s?“, fragt Käthe Herrmann leicht kokett, als wäre sie beim Quiz. Die anderen lachen. „Wenn man einmal angefangen hat, muss man weitermachen. Ich hab’ ja Zeit“, sagt Käthe Herrmann. „Ich liebe diese Malstunden sehr“, sagt die 97-jährige Erna Strack. „Meister, ich bin fertig!“ Zwei Sekunden später zeigt auch Frieda Jaenicke auf ihr Bild „Ich auch!“ Selbst die fast blinde Elisabeth Becker fühlt sich eingebunden. „Es hat uns sehr gefallen“, sagt sie, während ihre sprechende Uhr verkündet, dass es 17.40 Uhr ist.

Es war Gudrun Panicke-Schulz, die Pflegedienstleiterin, die Jörg Frey ins „Haus Malta“ mit seinen 52 Bewohnern zwischen 71 und 107 Jahren holte. Während eines Praktikums in einem Heim im Grunewald erlebte sie eine seiner Malstunden und war sofort begeistert. „Er kann tolle Sachen aus den Leuten herauszaubern. Die Bewohner öffnen sich und ihr ganzes Leben kommt zur Sprache.“

Die 48-Jährige beklagt, dass es für die Arbeit von Mitarbeitern in Senioren- und Pflegeheimen oft an Wertschätzung fehle, natürlich auch wegen der vielen Pflegenotstände. „Es ist sicher nicht alles Gold, was glänzt“, sagt sie, „aber es gibt auch Entwicklungen, die auf einem guten Weg sind.“ Für das Malprojekt wurde im „Haus Malta“ kurzerhand ein Lagerraum umgebaut, in dem Frey seit Mai dieses Jahres seine „Lieben“" um sich versammelt. Maren Gienapp, mit 36 Jahren eine sehr junge und aufgeschlossene Verwaltungs- und Heimleiterin, überlegte nicht lange, als sie mit Frey einen Honorarvertrag abschloss. „Er hat einen fantastischen Zugang und unglaublich viel Geduld, um auf all die Eigenheiten einzugehen.“

Jörg Frey spricht vom „Geld für die Seele“, das beim „gewinnorientierten Arbeiten in selbstorganisierten Armenhäusern“ fehlt. Mit seinen Kursen begann er 2002. Da hatte die Leiterin des „Karl-Steeb-Heims“ in Grunewald eine Ausstellung von ihm gesehen und ihn gefragt, ob er eine Seniorengruppe betreuen würde. „Ich hab’ einfach angefangen“, erzählt Frey. Was Demenz ist, wusste er damals noch nicht. Er trat dem „Deutschen Arbeitskreis für Gestaltungstherapie“ bei, seit 2005 studiert er Gestaltungstherapie und klinische Kunsttherapie an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Seine Kurse sieht er als „Katalysator“ für die Heimbewohner, von denen viele apathisch oder depressiv sind, die Nahrung verweigern und darunter leiden, dass die Pfleger zu wenig Zeit haben oder dass ihre Kinder sie abgeschoben haben.

„Die Malerei kann viel leisten“, sagt er, „da passiert was.“ Sie präsentiere sich mit ihren Farben als „Ausdruck der Außenwelt“ und könne gleichzeitig „Repräsentanz der Innenwelt“ sein. Frey betont, dass es nicht darum gehe, seine Eitelkeit als Maler zu befriedigen, sondern um „das Recht auf Würde, die Achtung vor der Würde und auch um die Würde des Scheiterns“. Deshalb regt es ihn auf, wenn Manager von Pflegeheimen meinen, Ein-Euro-Jobber und ein paar Farbtöpfe würden es auch tun. Frey will mit den Alten zusammen die klinikartigen Hausflure erobern.

Mittlerweile arbeitet er mit drei Seniorenhäusern zusammen, die alle auf ihn zugekommen sind. In den letzten fünf Jahren haben 103 Menschen zwischen 75 und 98 Jahren an seinem Projekt teilgenommen. Fast ehrfürchtig erzählt Frey, was er selbst bei den Kursen lernt. „Unser Alltag ist so voll, wir wollen alle was erreichen und dass uns jemand kennt“, sagt er. Frage man einen 95-jährigen Menschen, was ihm wichtig ist, dann seien es immer die menschlichen Beziehungen. „Alles andere ist wurscht.“ Auch alte Menschen wollten „gesehen, gekannt, angesprochen werden“ Nach den Kursen führt Frey ein künstlerisches Tagebuch, in dem er auch biografische Notizen der Teilnehmer festhält, die für das Pflegepersonal wichtig sein können.

Aus den anderthalb Stunden werden an diesem Freitagnachmittag im „Haus Malta“, wie so oft, zwei. Frey will seine „Lieben“ nicht abrupt entlassen. Sie lesen Herbstgedichte und erzählen aus ihrem Leben: von Gutshöfen, Erntedankfesten, vom Einzug ins Heim. Zum Schluss singen sie zusammen. „Rote Blätter fallen, graue Nebel wallen, kühler weht der Wind.“ Noch sind die Flure des vor einem Jahr sanierten Seniorenheimes weiß und kahl. Aber bald werden an den Wänden Bilder der Bewohnerinnen hängen.

Barbara Bollwahn

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