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Berlin: „Mama, Papa, happa happa“ Warum Kleinkinder so schlecht Deutsch sprechen / Förderverein „Hippy“

Von Amory Burchard und Susanne Vieth-Entus Aus was für einer Familie kommt ein gesundes sechsjähriges Kind, das kaum einen vollständigen Satz formulieren kann und nicht den Unterschied zwischen dick und dünn, lang und kurz erkennen kann? „Das ist eine sprachlose Familie“, sagt Ulla Ringe.

Von Amory Burchard

und Susanne Vieth-Entus

Aus was für einer Familie kommt ein gesundes sechsjähriges Kind, das kaum einen vollständigen Satz formulieren kann und nicht den Unterschied zwischen dick und dünn, lang und kurz erkennen kann? „Das ist eine sprachlose Familie“, sagt Ulla Ringe. Die „Kommunikation“ laufe hauptsächlich über das Fernsehen. „Nach der Kita“, erfuhr die Mitarbeiterin des Lernförder-Vereins „Hippy“ bei Hausbesuchen, „werden die Kinder vor den Fernseher gesetzt und gucken Trickfilme.“ Statt mit ihnen über den Tagesablauf zu sprechen – „Was hast du heute erlebt?“ – ließen die Eltern ihre Kinder mit den elektronischen Medien allein.

„Hippy“ (Home Instruction Program for Preschool Youngsters) arbeitet mit Migrantenfamilien. In Kreuzberg und Neukölln sind zehn türkische und arabische Muttersprachlerinnen in 150 Familien unterwegs, um mit den Müttern zu üben, „wie man mit einem Kind spielerisch lernen kann“. Spricht die Mutter nur mangelhaft Deutsch, nehmen die Helferinnen Kontakt in der Muttersprache auf und versuchen dann, die Lern- und Sprachspiele auf Deutsch zu erarbeiten. „Sprachlosigkeit“ sei allerdings ein Problem des Bildungsstandes der Familien und nicht der Nationalität, betont Ringe.

Thomas Abel, Kinderarzt im Gesundheitsamt Mitte, bestätigt die Hippy- Erfahrungen auch für deutsche Familien. „Die Kinder können souverän mit der Fernbedienung und elektronischen Spielzeugen umgehen.“ Für alarmierend hält es Abel, wenn Zweijährige noch nicht über einen Sprachschatz von 50 Wörtern verfügen. „Bei Familien in schwierigen Lebenslagen wird das Sprachdefizit sehr spät als Problem erkannt“, sagt Abel. Die Eltern behaupteten oft, ihre Kinder könnten eigentlich gut sprechen, wollten nur nicht.

Tatsächlich aber beschränke sich der Wortschatz oft noch mit drei Jahren auf „da (zeigen), nein, ja, Mama, Papa, heia (schlafen) und happa happa (essen)“ – und die Eltern aktzeptierten diese Babysprache. Dass Wedding beim Sprachstandstest des Senats am schlechtesten abgeschnitten habe, sei kein Zufall, sagt der Kinderarzt. „Das ist ein Ergebnis der sozialen Entmischung, von umgekippten Wohnquartieren.“ Spätestens zur Einschulung ihrer Kinder zögen Familien nach Spandau oder Reinickendorf – um den Weddinger Schulen mit einem Ausländeranteil von bis zu 90 Prozent zu entgehen.

Tiefen Einblick in die soziale Verelendung insbesondere Weddinger Familien hat auch Andreas Pochert, der als Lehrer 20 Jahre lang im schulpsychologischen Dienst arbeitete und die aktuelle Sprachstandsmessung der Vorschüler leitete. Nach rund 500 Hausbesuchen weiß er genau, was sich hinter dem beschönigenden Begriff der „bildungsfernen Elternhäuser“ verbirgt. „Die Kinder sind in ihren Familien bedroht und gefährdet“, warnt Pochert. Die Eltern hätten „keine Ahnung“, wie sie mit ihren Kindern umgehen sollen. Die wertvollen ersten Lebensjahre verstrichen, aber die Kinder „erfahren und erleben nichts“. Die Probleme gingen eben weit über die sprachlichen Defizite hinaus.

Familienhelfer, die der Verein Leuchtturm Mitte vermittelt, arbeiten nicht nur mit den Kindern. „Wir helfen den Familien, ihren Alltag zu strukturieren“, sagt Geschäftsführerin Angela Götte. Das beginne damit, ihnen zu erklären, dass sie morgens mit den Kindern aufstehen sollten, ihnen Brote schmieren und sie auf den Schulweg bringen sollten. Familienhelfer führen auch Eltern und Kinder gemeinsam an pädagogisch wertvolle Spiele heran, gehen mit ihnen in den Buchladen, um Lektüre auszusuchen – oder fahren mit ihnen ins Grüne. Selbst das richtige Fernsehen wird geübt. Eine Sendung gezielt aus dem Programm herauszusuchen, sie gemeinsam mit den Kindern anzuschauen und hinterher über das Gesehene zu sprechen – das sei keineswegs selbstverständlich. Bis zu zwölf Stunden pro Woche hatten die Helfer bis April für eine Familie, nach Sparauflagen des Senats sind es nur noch acht Stunden.

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