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Frische Fische.

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Zierfischbörse in Spandau: Männer, die auf Fische starren

Einst war das Aquarium Ersatz für den Fernseher. Heute ist es Teil einer hochprofessionalisierten Subkultur. Besuch bei einer Zierfischbörse in Spandau.

Von Markus Lücker

Die junge Frau in der Winterjacke will nur einen Moment am Rand Pause machen, als ihr Mann ihr entgegenblafft: „Wir müssen in die Mitte!“ Also wieder rein in den Menschenstrudel, dahin, wo es die gute Beute gibt: Perlhuhn-Harnischwelse und Prachtkärpflinge, Raubschnecken und bunte Teufelshörnchen. Vernetzt mit einem Wirrwarr aus grünen Gummischläuchen und Filteranlagen blubbert es aus mehr als 150 Aquarien – als würde es sich um einen einzigen lebenden Organismus handeln.

Es knackst aus einem Lautsprecher, dann legt sich eine Stimme über den Raum: „Hallo liebe Besucher der Anubias Zierfischbörse. Sie haben noch eine Stunde zum Stöbern. Und vergessen Sie nicht unsere Tombola um 13 Uhr.“ Der Mann zur Stimme ist Thomas Claaßen. Von einem Bartresen aus schaut er über die Stände von 30 Fischzüchtern, die sich im Veranstaltungsraum des Seniorenheims Havelblick versammelt haben. Sein neon-grünes Polohemd macht ihn für jeden als Mitglied des Anubias Aquarien Verein für Aquaristik erkennbar.

Claaßen kann sich nicht erinnern, wann er vom gewöhnlichen Fischhalter zum Aquarianer wurde. Vor Jahren habe er den Finger in ein Becken gesteckt „und dann war er da: der Virus“. Sechs Aquarien stehen bei ihm zu Hause. Er kennt sich aus mit Fischen aus allen Weltregionen, Pflanzenzüchtung und Wassersäurewerten. Seit fast zehn Jahren finde die Börse im Havelblick statt. Die Heimleiterin sei selber Aquarianerin. Entsprechend gut sei das Verhältnis.

Themenbecken sind der neue Trend

Viel hat sich verändert, seit in den Neunzigern gefühlt in jedem zweiten Wohnzimmer ein Aquarium stand. Damals die Standardausrüstung: zwei Skalare, ein dutzend Neons, eine halbe Kokosnuss zur Deko und eine Amazonas-Fotopappe für das Südamerikaflair. Auch mit Luftdruck betriebene Schatztruhen oder Plastikmeerjungfrauen sind nirgendwo auf der Börse zu finden.

Stattdessen seien Themenbecken der neue Trend, sagt Andreas Wolf. Statt Fotowand werden südamerikanische Biotope möglichst naturgetreu nachgebaut. „Oder ein Malawi-Thema: Da sieht das Aquarium aus wie ein Konfettihaufen.“ Der Mann mit dem klobigen Portmonee, das er wie einen Waffenhalfter an der Hüfte trägt, züchtet Fische, seit er sieben ist. Mit zwölf hatte Wolf die Herrschaft über 200 Becken.

Aus einem Schälchen heraus starrt ihn ein rostig-brauner Krebs an. Was es braucht, um so ein Krustentier aufzuziehen? Wolf beginnt eine Aufzählung, die mit einem 100-Liter-Aquarium anfängt, sich mit Säurewerten und Osmosewasser fortsetzt und mit dem Satz endet: „Aber wenn man ernsthaft einsteigen will, muss man sich halt schon mit Wasserchemie auseinandersetzen.“ Von den großen Haustierketten und der Kompetenz der Mitarbeiter hält Wolf nicht viel. „Die Leute verkaufen montags Schuhe und am Dienstag dann Fische.“ Lieber solle man sich vom Züchter beraten lassen.

So wie Steve. Der hat bei einem Züchter vorbestellt. Er hat vorbestellt, Deltaflügelzwergwelse. „Das Vorbestellen senkt den Stresspegel bei den Fischen“, sagt er. Weil sie dann separiert in Plastikbeuteln liegen, werde nicht den ganzen Tag in ihrem Becken herumgekeschert. In seinem orangefarbenen Parka quetscht sich Steve durch die Menge. Die gelbblonden Haare des 30-Jährigen sind straff zur Seite gegelt. Aus seiner Nase hängt ein goldener Ring. Wenn es so etwas wie Aquarianerhipster gibt, gehört Steve sicherlich dazu. Mit seinem Mann sei er hier und mit drei Bekannten aus seiner Aquarianer-WhatsApp-Gruppe. Alle paar Monate würde die sich für die Börse treffen. Für Expertise setze er vor allem auf seine Chat-Clique aus Vertrauten. „In den großen Internetforen steht zu viel Unsinn.“

Fischehalten sei in den vergangenen Jahren deutlich schwieriger geworden, sagt er. Wegen der Wasserqualität. Selbst der Guppy, der früher noch in jeder Grundschulklasse überlebt hat, könne heute an den Wassern von Berlin verenden. Das Gegenmittel: Statt einem Filtertypen gäbe es nun zehn zur Auswahl. Andere Fischhalter würden Präparate einsetzen, um ihr Leitungswasser zur Superbrühe aufzutunen.

"Besser als Fernsehen"

Wieder andere experimentieren mit Trinkwasserflaschen aus dem Supermarkt und machen aus der Wasserchemie eine Alchemie. Steves aquakulturpessimistischer Vorwurf über einen allgemeinen Verfall der Wasserwerte deckt sich jedoch nicht mit den Daten der Berliner Wasserbetriebe. Zwar haben einzelne Stoffe in einzelnen Wassergebieten zugenommen, meistens bleiben die Werte aber innerhalb der Empfehlungen für Fische.

„Besser als Fernsehen“, kommentiert ein Börsenbesucher den Reiz seines Hobbys. Den Vergleich zieht auch der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller. Für den Fotoband „Appetite for the Magnificent“ hat er sich mit der Kulturgeschichte des Aquariums beschäftigt. „Es handelt sich beim Fischbecken gewissermaßen um einen Vorgänger des Fernsehers“, sagt Scheller. Wie das Fernsehen brachten die Aquarien ab dem 19. Jahrhundert Dinge nahe, die eigentlich fern waren. Sie erlaubten den Blick auf das Verborgene – die auch heute noch weitgehend unerforschten Meere. Auch die konkrete Position von Aquarium und Fernseher im Haushalt sei vergleichbar. Beides meist auf einem kleinen Tischchen im Wohnzimmer. „Und dann guckt man da rein und wartet auf die Geschichten.“ Doch während das klassisch-lineare Fernsehen der Flexibilität von Netflix weicht, bleibt das Aquarium als Antithese zum modernen Mediennutzung bestehen – ein Programm, 24 Stunden am Tag, kein Vorspulen, keine Pausetaste, Fische. Scheller nennt das mediales Slow-Food. „Wenn Sie vom Internet überfordert sind: schaffen Sie sich ein Aquarium an.“

Der Kunstwissenschaftler beschreibt noch eine weitere Verwandtschaftsbeziehung des Aquariums: die Religion. 1854 popularisierte der Brite Philip Henry Gosse die Aquaristik mit seinem Buch „Das Aquarium – Eine Enthüllung der Tiefseewunder“. Die Gosse war nicht nur Naturforscher, sondern auch apokalyptischer Freikirchler. „Der war richtig enttäuscht, als das Jüngste Gericht zu seinen Lebzeiten ausblieb.“

Unter diesem Vorzeichen sei auch der Titel von Gosses Buch zu verstehen. Aus dem Griechischen lässt sich das Wort Apokalypse als Enthüllung übersetzen. Die Tiefseewunder zu enthüllen, sei für Gosse dem Brechen eines Siegels gleichgekommen, wie es in den Offenbarungen des Johannes beschrieben wird. Durch die Erkundung der Meere sollten die tiefsten Wunder der Welt zur Schau gestellt werden. Der Nächste Schritt: Die finalen Enthüllungen des Jüngsten Gerichts.

An einem Stand kauft ein Vater Labidochromis caeruleus für seine Tochter. Wegen seiner gelben Schuppen wird der Fisch häufig auch Yellow genannt. Die Tochter will ein Haustier. Fünf Exemplare werden es schließlich – eingepackt in Plastik, umwickelt mit Zeitung. Die Apokalypse bleibt aus.

Die Zierfischbörse Spandau findet an jedem zweiten Sonntag im Monat statt.

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