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Berlin: Manuela Mechtel (Geb. 1950)

Ihr Kasper sprach zwei Sprachen, Deutsch und Türkisch.

Gewöhnlich ist Kasper ein umtriebiger Bursche mit langer Nase, der auf alles drischt, was sich ihm in den Weg stellt, ob Polizist, Krokodil oder die eigene Oma. Der Kasper in ihrem Puppentheater war anders, er war besonnen und ehrlich. Er hatte sogar Mitleid mit dem gefräßigen Krokodil. Seine Verschlagenheit war eine andere: „Versprich dem Krokodil Würstchen, dann trägt es dir den schweren Picknickkorb, wohin du willst!“

Kindern in ihren Ängsten beizustehen, sie in ihren Fähigkeiten zu fördern und ihnen auf jede Frage zu antworten, war für sie selbstverständlich: „Kinder sind rar, Kinder sind unsere Zukunft. Wir sollten sie uns nicht verbauen!“ Sie fühlte sich als Anwalt der Kinder, insbesondere jener, die wegen ihrer Herkunft schnell den Stempel der Chancenlosigkeit verpasst bekommen. Die Zweisprachigkeit vieler dieser Kinder sei ein großes Glück, das man fördern müsse. Ihr Kasper jedenfalls sprach Deutsch und Türkisch.

Wenn sie auf der Straße, einem Festival oder in einer Kita ein Stück aufführte, dann stellte sie zunächst stets ihre Guckkasten-Bühne und die beiden Koffer mit den Requisiten vor: „Ein Korb voller Fressalien – alle aus Plastik! Würstchen für den Kasper, so groß wie er selbst! Ist das nicht ungeheuerlich?“ Damit nahm sie ihrem Spiel keineswegs die Illusion. Die Kinder folgten jeder ihrer Geschichten, nicht nur den ausgedachten. Dass die Puppenspielerin beim Kauf der Würste vom Requisitenhändler übers Ohr gehauen wurde, fanden sie ziemlich gemein.

„Je weniger Realität ich abbilde, desto mehr erscheint in der Fantasie.“ Ihre Bühnenbilder waren minimalistisch. Eine gelbe Plastikscheibe, ein grüner Filz, ein blaues Seidentuch, zwei Papptannen – ein Picknick im Wald. Die Puppen baumelten wie bei den alten französischen Puppenspielern an ihrem Gürtel.

Ihre eigene Kindheit endete jäh, als ihr Vater, ein Journalist, im Ausland erschossen wurde. Die Mutter, eine Schauspielerin, gab, was sie konnte: Liebe, Zuwendung, Inspiration und Vertrauen. Nur an Zeit und Geld mangelte es.

Anfang der siebziger Jahre ging Manuela Mechtel für ein Jahr nach Paris zum Zirkus Annie Fratellini. Davor hatte sie in München Musik und Philosophie studiert. Schwanger und mit dem Entschluss, Puppenspielerin zu werden, kehrte sie aus Frankreich zurück. Sie schrieb Kinderbücher, Lieder und Stücke und zog ihre beiden Kinder alleine groß. 1989 zog sie nach Berlin. Ihr Kalkül, ein breiteres Publikum zu finden, ging auf.

Als im Jahr 2005 das ganze Land auf die Neuköllner Rütli-Schule aufmerksam wurde, reagierte Manuela Mechtel auf ihre Weise. Sie eröffnete am Neuköllner Reuterplatz eine Poesiewerkstatt für Kinder, holte sie direkt von der Straße und ließ sie Gedichte und Geschichten schreiben: „Sexzie is kul“ und „Zichopaten“ schrieben sie, „Zombies“, „Schlampen“ und „Gangster“ bevölkerten ihre Fantasien. Manuela Mechtel war erschrocken über den rohen und desillusionierten Ton der Geschichten. Aber sie sah auch, wie die Kinder aufblühten und sich öffneten. Als sie ihre Geschichten schließlich stolz in selbst gefertigten Büchern nach Hause brachten, wurde es einigen Eltern aber zu bunt. Sie fühlten sich bloßgestellt und verunglimpft und warfen Manuela Mechtel üble Stimmungsmache vor.

An Krebs erkrankt ging sie nach Argentinien – und setzte sich dort für obdachlose Straßenkinder ein. In Sri Lanka stand sie monatelang Frauen bei, denen während des Bürgerkrieges schlimmes widerfahren war. „Was habe ich zu verlieren?“, war ihre Erwiderung auf die Sorgen einer Freundin.

Ihre mobile Bühne hatte sie zu Hause abgestellt, aber den Sinn für das Schöne im Leben, den trug sie in sich. „Das Leben sollst du dir wie die Schale einer Kastanie vorstellen“, sagte sie mal, „sie schrumpft, wird alt und braun. Irgendwann wird die Schale zu eng für den Inhalt. Sie platzt und lässt den Kern frei.“ Stephan Reisner

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