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Berlin: Marianne Girod (Geb. 1912)

Am Monatsende trug sie ihre Schreibmaschine ins Pfandhaus.

Am Ende ihres langen, niemals aber langweiligen Lebens umgab Marianne Girod sich mit Affen. Sieben Orang-Utans aus Plüsch. „Hinsichtlich der Kunsttiere“, notierte sie einmal, „stoße ich teils auf Unverständnis, teils auf mitleidiges Dulden einer vermeintlichen Altersschwäche. Wie aber, wenn man sich der Gedankenwelt Friedrich Nietzsches verschrieben hat: Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch?“

So war Marianne Girod. Den Affen fest im Blick hat sie sich weder mit einem Tier noch mit einem Übermenschen verwechselt.

Geboren wurde dies vernunftbegabte Wesen als erstes von sechs Kindern in einem preußisch-kaisertreuen Haushalt in Pommern. Die Mutter hatte vor ihrer Ehe als Mathematiklehrerin gearbeitet, der Vater war Wasserstraßeningenieur. Tochter Marianne aber teilte weder die Liebe ihrer Eltern zu den Gesetzen der Mathematik noch zu denen des Kaisers. Sie beschäftigte sich mit Literatur, hörte hin, wenn von Arbeiteraufständen die Rede war und studierte zusammen mit einer Schulfreundin Karl Marx.

Der Vater entwickelte einen trickreichen Plan, mit dem er das Kind zurück auf die rechte Bahn bringen wollte: Er platzierte die Achtzehnjährige neben einem adretten Kollegen vom Wasserstraßenamt und unterhielt sie mit Scherzen wie dem plötzlichen Erlöschen des Lichtes. Verlobungsfeier nannte sich das.

Marianne ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Sie wartete einen passenden Moment ab und erklärte, dass sie derzeit leider keine Wasserstraßeningenieursgattin werden könne. Sie wolle nämlich Slawistik studieren. Seine Frau hatte studiert, warum dann nicht auch die Tochter – der Vater gab nach. Sie solle sich nur beeilen, sagte er, vier Jahre, dann ist Schluss.

Also zog Marianne nach Königsberg, las russische Gegenwartsromane, besuchte Veranstaltungen des Sozialistischen Studentenbundes, trat ihm aber nicht bei.

Vielleicht, weil sie diesen Professor hatte, der sie einmal beiseite nahm, auf die braunen Uniformen verwies und ihr davon abriet, ihre Ansichten allzu offenherzig kundzutun. Sie solle ihre Liebe zur russischen Gegenwartsliteratur und allem, was damit zusammenhing, nicht unterdrücken, aber chiffrieren.

Das tat Marianne. „Die Anwendung des Genitivus singularis masculinum et neutrum auf und in der gegenwärtigen russischen Sprache“, überschrieb sie ihre Dissertationsarbeit. Um den aktuellen russischen Genitiv erforschen zu können, brauchte sie aktuelle russische Zeitungen. Das leuchtete den Hütern des Zeitungsarchives des Reichspropagandaministeriums ein. Sie ließen Marianne unterschreiben, dass sie die Inhalte ihres Forschungsmaterials nicht zur Kenntnis nehmen werde, und ließen sie die täglich aktuelle Prawda lesen. Bis der Vater erklärte, dass nun das nächste Kind studieren müsse. Da überreichte Marianne ihre Erkenntnisse zum Genitiv dem „Osteuropa-Verlag“ und zog die Tür des Archives hinter sich zu. Sie hatte sich gegen eine Anstellung im Propagandaministerium entschieden und begann in Berlin als Stenotypistin zu arbeiten.

Lange hielt sie diesen stillen Beruf nicht aus. Nach einem Jahr ging sie zurück nach Königsberg, volontierte bei der dortigen Zeitung und bedauerte, dass sie nicht in Russland als Korrespondentin eingesetzt werden konnte. Dafür wusste sie jetzt, wen sie küssen wollte: den Sportredakteur. Ein ehemaliger Tischtenniskönig mit schwerem Rheuma, absolut frontuntauglich. Die Eltern misstrauten diesem lädierten Schreiberling, ließen einen Detektiv auf ihn ansetzen. Letzten Endes war es ihre Nachbarin, die den Stimmungsumschwung brachte: Sie erkundigte sich, wer der schöne Mann sei, den die Marianne da bei sich gehabt hätte. Und da entdeckte auch Mariannes Mutter ihre Sympathie für den künftigen Schwiegersohn.

Schwanger mit dem zweiten Sohn floh Marianne nach Thüringen, ein Transport, den ihr Mann organisiert hatte. Er selbst wurde in den letzten Kriegswochen mit einer Panzerfaust losgeschickt. 1950 ließ Marianne ihn für tot erklären.

„Ich habe meine Kindheit in schöner Erinnerung, auch wenn mir andere immer sagen, ihr müsst gelitten haben“, sagt der Sohn. Es gab eine Ziege für die Milch und eine Karnickelzucht für die Liebe zum Kreatürlichen. Eigentlich waren die Kaninchen für den Backofen bestimmt, doch das ließen die Kinder nicht zu. Und vor allem gab es diese Marianne, die keine Zeit fand zum Leiden. Also hörten die Kinder von ihrer Mutter kein Wort der Klage, dafür viele russische.

Ihr Russisch war ganz nach dem Geschmack der Besatzer. Es reichte nicht, um in ihr eine Spionin zu vermuten, und es reichte, um zu unterrichten. 1946 wurde Marianne Girod zur Direktorin der Pädagogischen Fachschule von Eisenach ernannt, an der sehr schnell sehr viele Russisch-Lehrer ausgebildet werden sollten. „Und das, obwohl ich die Pädagogik bis dahin gefürchtet hatte wie der Teufel das Weihwasser“, notierte sie später.

„Sie hat mich nie erzogen“, meint der Sohn dazu. Als kleiner Junge griff er einmal in einem Restaurant nach dem Salzstreuer und erklärte, dass er den mit nach Hause nehmen wolle. Um das zu unterstreichen, verzog er sich mit seiner Beute unter den Tisch. Marianne entschied sich für die unpädagogischste, aber friedlichste Lösung und kaufte dem Restaurant den Salzstreuer ab.

Diese Szene muss sich am Monatsanfang abgespielt haben. Denn am Monatsende trug sie regelmäßig ihre Schreibmaschine ins Pfandhaus. Der Besitz von Geld war Marianne Girod nicht geheuer. Sie setzte alles daran, ihr bescheidenes Einkommen so schnell wie möglich wieder loszuwerden. So lehrte sie ihre Söhne Genuss und Verzicht, zwei Lektionen, scharf voneinander getrennt in Monatsanfang und Monatsende.

Die Ausbildung von Russischlehrern betrieb sie zweieinhalb Jahrzehnte lang in verschiedenen Städten, darunter in Potsdam und Leipzig. Ihr Fachgebiet war die russische Literatur, ihre Vorlesungen waren frei von lehrmeisterlicher Dünkelhaftigkeit und bei den Studenten beliebt.

Wenn sie Zeit übrig hatte, füllte sie daheim einen Zettelkasten nach dem anderen mit Notizen zu Maxim Gorki. An ihm interessierte sie vor allem sein später, widersprüchlicher Roman „Klim Samgin“, der sich so unterscheidet von seinen früheren Werken. Die Hauptfigur eine „leere Seele“, ein Revolutionär ohne Stehkraft, konzipiert als Antiheld und doch zum Mitgefühl einladend. Marianne Girod erinnerte sich ihrer Französisch- und Englischkenntnisse und untersuchte in ihrer Habilitationsschrift „Klim Samgin als Typ der Weltliteratur“.

Ein schmeichelhafter Titel, der Marianne wieder einmal verbotene Türen öffnete, diesmal die der Deutschen Bücherei in Leipzig. Da saß sie und las wegsortierte Autoren. So sehr Marianne Girod die Idee des Sozialismus überzeugte, so wenig wollte sie sich zum Sklaven der herrschenden Kleingeister machen lassen.

Erst zwei Jahre vor ihrer Pensionierung wurde sie zur Professorin berufen. 1970 war das, an der Pädagogischen Hochschule in Magdeburg. Nach ihrer Emeritierung wurde sie von der Hochschule so dringend gebraucht, dass sie mit ihren Freiberufler-Honoraren mehr verdiente als zuvor, sich das erste Auto ihres Lebens kaufte, einen gebrauchten Moskvich, und damit falsch herum im Kreisverkehr anzutreffen war. Nebenbei schrieb sie eine Bühnenfassung von „Klim Samgin“ und versuchte unverdrossen doch vergeblich Dramaturgen von einer Aufführung zu überzeugen.

2005 starb ihr erster Sohn an einem Herzinfarkt. Danach verfiel sie, die das Reden so liebte, in langes Schweigen. Und verkündete schließlich: „Der Umgang mit Todesfällen ist eine Frage der Intelligenz.“ Die Herausforderung, so erläuterte sie, liege darin, ob man in der Lage sei, dem Verstorbenen eine sinnvolle und gute Legende zu bauen, einschließlich des Todes.

Bis zum Schluss schrieb sie auch an ihrer eigenen Geschichte weiter. Sie zog um nach Berlin, engagierte ein marokkanisches Schachgenie als persönlichen Trainer, lehnte das Angebot eines 90-Jährigen „wie Mann und Frau zu leben“ freundlich ab, lernte griechisch, um einige philosophische Schriften im Original lesen zu können und verhandelte weiterhin mit Dramaturgen zu Klim Samgin. Als sie in ein Seniorenheim zog, gründete sie eine Initiative für eine würdige Behandlung der Alten. Keine Faschingshütchen, keine Babysprache. Es war ein Frühlingstag, zwölf Uhr mittags, ihr Sohn saß am Krankenbett der herzschwach gewordenen Mutter, als sie aufhörte zu atmen. Anne Jelena Schulte

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