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Berlin: Marianne von Machui-Pallat, geb. 1912

Als sie 78 Jahre alt wurde, beschloss Marianne von Machui-Pallat nach Kanada auszuwandern und Gemüse zu züchten. 16 Sorten wuchsen schließlich im Garten, und die Schößlinge zog sie auf dem Fensterbrett ihres Häuschens.

Als sie 78 Jahre alt wurde, beschloss Marianne von Machui-Pallat nach Kanada auszuwandern und Gemüse zu züchten. 16 Sorten wuchsen schließlich im Garten, und die Schößlinge zog sie auf dem Fensterbrett ihres Häuschens. Hier lebte sie zusammen mit ihrem Bruder, der zwei Jahre älter war als sie, und dem sie den Haushalt führte. Bruder und Schwester aßen zum Frühstück Haferschleim und sonst fast nur das, was die eigene Ernte abwarf. Sie heizten vorwiegend mit selbstgeschlagenem Holz. Einen Fernseher wollte die alte Dame nicht. Lieber saß sie am Fenster und sah jahrein, jahraus die Blätter grün, dann feuerfarben, dann braun werden und sah sie fallen. Die Zeit in Kanada war ihre glücklichste.

Davor war ihr Leben härter. Als junge Frau hatte sie fest vor, Werklehrerin zu werden. Sie wollte die Ideen ihres Vaters umsetzen; der war ein berühmter Reformpädagoge und forderte mehr praktische, kreative Arbeit im Schulunterricht. Aber dann kam der Krieg. Marianne Pallat verabscheute die Nazis. Sie war einer Meinung mit ihrem Schwager, dem Widerständler Adolf Reichwein, der dem Kreisauer Kreis angehörte. Marianne war kein aktives Mitglied, aber sie wusste um die konspirativen Treffen im Zehlendorfer Haus ihres Bruders. An jenem Julitag 1944, als der Schwager verhaftet wurde, handelte sie doch: Um die anderen Mitglieder des Kreises zu schützen, schnappte sie sich kurz vor der Haus-Durchsuchung das Adressbüchlein des Schwagers und versteckte es in einem Mauerhohlraum. So gut, dass es nie jemand wieder finden sollte.

Hitler hatte ihr den Wunschberuf verdorben, also wurde Marianne Pallat Buchbindermeisterin. 1938, mit 25 Jahren machte sie sich selbstständig. Im selben Jahr heiratete sie Arthur von Machui. Während es mit dem Geschäft ganz gut lief - bald lieferte sie per Sackkarre und S-Bahn schwere Kisten der von ihr gebundenen Bücher aus - ging die Ehe schief. Der Mann war nicht treu und seine Ehefrau zu stolz, das hinzunehmen. 1948 ließ sie sich scheiden und zog die Tochter alleine groß. Gab es danach noch andere Männer? Sie verehrte den Religionsphilosophen Paul Tillich, den sie als junge Frau kennen gelernt hatte. So viel ist sicher - sein Bild bewahrte sie bis zu ihrem Lebensende sorgfältig auf. Eventuell noch vorhandene Briefe sollten die Verwandten nach ihrem Tod ungelesen verbrennen.

Diskretion, Würde und Anstand waren Werte, die Marianne von Machui-Pallat hochhielt. Sie war ein "preußischer Mensch", sagen Freunde. Arbeitsam: Wenn sie nicht bis 22 Uhr oder länger in ihrer Werkstatt saß, leitete sie an der Volkshochschule Buchbinde-Kurse oder präsentierte ihre Ideen auf Messen. Das Fischhaut-Pergament ist eine Erfindung, die sie sogar patentieren ließ. Hilfsbereit: Verzweifelten Studenten, die vor der Zeit der Copy Shops spät noch bei ihr klingelten, band sie schnell die Examensarbeit. Verantwortungsbewusst: Über den Krieg hinweg schaffte sie es, keinen einzigen ihrer Mitarbeiter zu entlassen. Damit verschuldete sie sich hoch. Und uneitel war sie: die Friseur-Löckchen, die sich im Alter so viele Bekannte machen ließen, fand sie "grauslig". Alles, was sie sich gönnte, war die tägliche Ganzkörperabreibung mit Apfelessig und Karottenöl fürs Gesicht.

Von sich selbst sprach sie nicht oft. Nie jammerte sie. Und doch war alles so deutlich von ihrem Gesicht abzulesen: Auf alten Fotos geht Marianne von Machui-Pallat immer sehr aufrecht auf die Kamera zu. Ein herbes, ungeschminktes Gesicht blickt den Betrachter an, höchstens mit einem dezenten Lächeln, selten mit einem fröhlichen Lachen. Energisch setzt sie ein schlankes Bein vor das andere. Ihre Kleidung ist solide, jedoch nie besonders modisch. Sie hielt lange, weil Marianne von Machui-Pallat sorgsam mit ihr umging.

Zeitlebens trug sie aber noch etwas Unsichtbares: ein enges Korsett aus kühler Distanz und Selbstdisziplin. Eine strenge Frau war sie, vor der alle Respekt hatten, keine Kumpanin. Manchmal aber muss die Frau an diesem Korsett gezerrt haben - sie empfand mehr an Zuneigung für ihre Umwelt, als sie auszudrücken vermochte. Küsse und Umarmungen waren ihr fremd, deshalb gab sie Materielles: Für 2500 Mark kaufte sie, die ein eher bescheidenes Einkommen hatte, medizinische Geräte für den Kindergarten im Nachbarschaftsheim Mittelhof. In dieser Institution hatte sie sich seit 1966 engagiert. Und zu Weihnachten stellte sie Berge von Quittenbrot her, in Rauten geschnitten und in Hagelzucker gewendet, und verschenkte es an alle, die sie kannte.

Mit 50 Jahren entdeckte Marianne von Machui-Pallat wenigstens eine Möglichkeit, sich selbst zu verwöhnen: das Reisen. Die Abenteuerlust, mit der sie auf unbequemen Postbooten die nordischen Fjorde entdeckte, oder mit der sie im Greyhound durch Amerika gondelte, erinnert an Marianne als Kind. Da hatte sie immer viel lieber ein Junge sein wollen, einer, der was erleben darf. In Kanada schließlich blieb sie. Zehn Jahre lang. Und kam erst zum Sterben zurück nach Berlin.

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