zum Hauptinhalt
Hatice Akyün.

© Andre Rival

Mein Berlin: Diktatur der Frauen

Wie Minderheiten Mehrheiten bekommen und warum für den Vater unserer Kolumnistin jeder Tag Weltfrauentag ist. Notizen aus der globalen Stadt.

Die Wahl am vergangenen Sonntag hat die Mehrheit im Abgeordnetenhaus nicht bestätigt. Deren Mehrheit war im Übrigen auch keine Mehrheit mehr, sondern rechnerisch nur noch ein Patt, also ein Gleichstand zur Minderheit. Diese war aber nicht nur eine Minderheit, sondern setzte sich aus mehreren Minderheiten zusammen. Aber jetzt gibt es wieder eine neue Mehrheit, allerdings mit nur einer Stimme Unterschied. Aber Mehrheit ist ja bekanntlich Mehrheit, solange sie zu Stande kommt.

Am Wochenende war ich in meiner Heimatstadt Duisburg. Die Stadt liegt im Bundesland Nordrhein-Westfalen und wird seit einem Jahr von einer Minderheit regiert. In Duisburg selbst werden Unterschriften gesammelt, damit gegen den Oberbürgermeister, für dessen Abwahl es keine Mehrheit gab, aus der Minderheit heraus ein Abwahlverfahren eröffnet werden kann. Das geht aber nur, wenn 25 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, damit die Minderheit zur Mehrheit wird. Was aber so auch nicht ganz stimmt, weil zu den Wahlen oft nur die Hälfte derer geht, die eigentlich gehen könnte. So hilft die Nichtstimme, dass extreme Minderheiten so tun können, als ob sie mehr wären, als sie tatsächlich sind.

Die Minderheit bekommt Mehrheiten, weil Teile der anderen Minderheit mitstimmen, dass Minderheit Mehrheit wird. Oder aber sie enthalten sich, so dass die andere Minderheit keine Mehrheit bekommt.

Weil Politik schon schwierig genug ist, habe ich mich mit meinem Vater über Demokratie unterhalten. Lange hat diese Unterhaltung allerdings nicht gedauert. Er sagte: „Ach, Tochter, seit ich deine Mutter geheiratet habe, gibt es in meinem Leben keine Demokratie mehr. Mit vier Töchtern, sieben Enkeltöchtern und einer anatolischen Ehefrau ist für mich jeden Tag Weltfrauentag.“ Dann seufzte er sehr lang und tief in sich hinein.

Sein Patriarchenleben hat sich mein Vater auch ganz anders vorgestellt, als er damals aus Anatolien in das Land auswanderte, in dem zur selben Zeit Frauen auf die Straße gingen, um ihre Büstenhalter zu verbrennen. Die weiblich dominierten Verhältnisse in meiner Familie bieten meinem Vater keine allzu großen Entfaltungsmöglichkeiten in der Patriarchenrolle.

Wenn zum Beispiel der Kauf einer neuen Sofalandschaft ansteht, beruft meine Mutter einen Familienrat ein, damit wir gemeinsam entscheiden, welche Farbe und Form sie haben soll. Die demokratische Abstimmung gilt aber nur so lange, bis sie sagt: „Im Leben werde ich nicht zulassen, dass wir ein lilafarbenes Sofa kaufen. Nur über meine Leiche.“ Somit sind die Mehrheitsverhältnisse durch eine finale Rücktrittsdrohung geklärt, Das Mehrheitswahlrecht aus Kindern und Enkelkindern zählt nicht, das Veto meines Vaters reicht nicht, meine Mutter überstimmt uns alle mit Doppelveto. Die Grundidee der Volksherrschaft, durch Mehrheitsbeschlüsse zu regieren, wird regelmäßig außer Kraft gesetzt. Gewaltenteilung ist überflüssig, faule Kompromisse finden nicht statt, Sondierungen und Koalitionsgespräche sind die reinste Zeitverschwendung. Ob Klaus Wowereit gerne mal mit meiner Mutter tauschen würde?

Wenn ich empört auf die diktatorischen Verhältnisse bei den Akyüns hinweise, ziehen sich Zornesfalten auf der Stirn meiner Mutter zusammen, sie bäumt sich auf und klagt mit bebender Stimme: „Ich habe Dich neun Monate in meinem Bauch getragen, du warst von meinen sechs Kindern das Schwierigste, alles habe ich geopfert, damit du studieren kannst. Ist das der Dank für all meine Strapazen?“ Das ist natürlich nur eine rein rhetorische Frage.

Dass Mehrheit aber nicht gleich Wahrheit bedeutet, ist genauso sicher wie der geblümte Bezug unserer neuen Sofalandschaft, die trotzdem gegen den Willen der überstimmten Familienmitglieder durch die einzige Stimme meiner Mutter gekauft wird.

Oder wie mein Vater sagen würde: Cennet annelerin ayaklari altindadir – Das Paradies ist unter den Füßen der Mütter.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false