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Mein Berlin: Ich wünsche mir ein Wir

Notizen aus der globalen Stadt von Hatice Akyün.

Jeden Morgen stehe ich vor dem Spiegel und überlege, was ich anziehen soll. Nicht, dass Sie jetzt denken, ich sei von übertriebener Eitelkeit getrieben. Ich versuche lediglich, der Konformität ein Stück Individualität entgegen zu setzen. Dazugehören, ohne mich vereinnahmen zu lassen. Eigentlich beklage ich das nicht. Ich kann ein bisschen Rosinen picken, überall dabei sein, solange man mich lässt. Für nichts einstehen, was mir nicht gefällt oder hinter dem ich nicht mit voller Überzeugung stehe. Dafür bin ich manchmal ganz schön auf mich allein gestellt. Spätestens, wenn der Broterwerb im Vordergrund steht, sind allerdings Kompromisse angesagt.

Aber ich schweife ab. Was mich umtreibt ist die Frage, wie viel Eigenheit wir ertragen? Wo beginnt das „Alle“ und endet das „Einer“? Ich frage mich das auch im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse. Im Bundestag wurde man über alle Parteien hinweg nicht müde – und ich wiederhole die Kunstbegriffe deshalb nicht, weil sie kategorisieren, klassifizieren und somit wieder Unterschiede nach vorne stellen – sich bei denen, deren Vorfahren irgendwann einmal nach Deutschland kamen, für die Mordserie zu entschuldigen. Die einen bei den anderen. Das ist falsch gedacht. Solange wir Menschen, egal ob arm, ob reich, ob alt, ob jung, ob blond, ob dunkelhaarig aus der großen bunten Salatschüssel Bundesrepublik herauspicken, solange werden die einen bestimmen, was mit den anderen geschieht. Sobald man aber begreift, dass man in seinem Land untrennbar zusammengehört, kann man Unterschiede aushalten, abbauen oder verändern. Dann sind Probleme die Herausforderung aller und auf Lösung ausgerichtet, aber nicht auf „deren“ und „unsere“ Probleme verschoben.

Man wirft mit Schlagworten wie „Migrationshintergrund“ alles in einen Topf und rührt Dinge zusammen, die nicht zwingend zusammen passen müssen. Sind ein Finanzjongleur, ein Oberstudienrat, ein Student, eine alleinerziehende Mutter, ein Landwirt und ein Bundesligatrainer vom Lebensentwurf her standardisierbar? Genauso wenig sind ein Restaurantbesitzer, ein Arbeitsloser, ein Unternehmer, ein Handwerker, ein Journalist, ein Moderator, ein Fußballer, ein Politiker in ihren Lebensentwürfen, Denkweisen und politischen Überzeugungen gleichzusetzen, weil ihre Vorfahren einmal aus der Türkei kamen. Die Probleme entlang ethnischer und religiöser Fragestellungen diskutieren zu wollen, lenkt von der eigentlichen Frage, nämlich der sozialen, ab.

Ein Leser meiner Kolumne schrieb mir eine E-Mail und bemerkte, dass die Trennung von Bevölkerungsgruppen in den Medien und politischen Reden penetrant aufrechterhalten würde. Je kleiner die Grüppchen, desto besser ließen sich diese beeinflussen oder denunzieren. Er schrieb weiter: „Warum stellt sich Herr Wowereit am Tag seiner Wahl nicht einfach mal hin und verkündet, er kenne in seiner Stadt keine Türken, Deutschen, Schwulen und Schwaben mehr, sondern nur noch Berliner? Das wäre mal vorgelebte Integration!“

In Berlin leben keine Ethnien, Religionen oder Weltanschauungen, sondern Menschen. Jeder einzelne mit Aufgaben, Rechten und Pflichten sowie Verantwortung für den anderen und das Ganze. Und die 190 Nationen, die unsere Metropole speisen, bleiben ein ungehobener Schatz, wenn man nicht endlich gemeinsam die Ärmel aufkrempelt und zusammen steht.

Als ich über der Kolumne brütete und überlegte, wie ich unzählige Argumente, meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Hoffnungen ausdrücken sollte, kam meine Tochter und fragte mich, was ich mir zu Weihnachten wünsche. Und während ich Luft holte und nachdachte, hörte ich mich fest sagen: „Ich wünsche mir ein Wir.“

Oder wie mein Vater sagen würde: Dünya bol olmus neye yarar, pabuc dar olduktan sonra – was nützt es, dass die Welt groß ist, der Pantoffel aber zu klein.

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