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Migration: Junge Türkinnen begehren gegen Familien auf

Ein traditionell orientiertes Wertesystem behindert viele Frauen im Kampf um Gleichberechtigung. Immer mehr begehren dennoch gegen überholte Moralvorstellungen ihrer Familien auf.

Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) betätigte sich jüngst als „Heiratsanbahner“: In der Debatte um Ehen junger Migranten mit sogenannten Importbräuten aus der Türkei oder arabischen Ländern empfahl der Senator, Berliner Türken sollten lieber „freche Türkinnen“ von hier heiraten. Die Aussage machte er bei einer Podiumsdiskussion der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, und sie erzeugte ein großes Echo in deutschen und türkischen Blättern – bis hin zum ironisch erhobenen Vorwurf, nun plädiere schon der Innensenator für Zwangsheirat. Welche Schwierigkeiten haben junge Deutschtürken und -araber denn mit ihren Landsfrauen? Und haben moderne Migrantinnen in Berlin etwa Schwierigkeiten, einen Mann zu finden?

In Berlin gibt rund 90 aktenkundige Zwangsehen. Die Dunkelziffer liegt nach Schätzungen von Vereinen, die betroffenen Mädchen helfen, um ein Vielfaches höher.

In der Tat begehren in Berlin zwar immer mehr Mädchen und junge Frauen gegen die überholten Moralvorstellungen ihrer Familien auf – verlässliche Statistiken gibt es aber dazu nicht. Bekannt ist nur, dass zwölf Prozent der türkischen Frauen in Deutschland mit dem Ehemann, den die Familie ausgesucht hat, nicht einverstanden sein sollen. Das geht aus einer Studie des Bundesfamilienministeriums hervor. Das heißt aber noch nicht, dass alle diese Frauen Gewalt erleiden müssen, und auch nicht, dass sie überhaupt versuchen, sich aus der Situation zu befreien. Nach der Studie sind Migrantinnen jedoch viel häufiger Gewalt ausgesetzt als Deutsche, besonders durch den Ehepartner.

Hinzu kommt, dass in traditionell orientierten türkischen Familien ein anderes Wertesystem gilt als bei Deutschen. Dabei spielt die Ehre der Familie eine zentrale Rolle. „Schande macht dort nicht die Zwangsverheiratung, auch nicht die Vergewaltigung – Schande macht, wenn es rauskommt“, sagt eine Mitarbeiterin des Vereins Papatya, der Mädchen und Frauen vieler Nationen in Krisensituationen hilft. Wenn also ein Mädchen wegläuft, etwa weil es zwangsverheiratet werden soll, versucht die Familie meist erst einmal, dies zu vertuschen – „es wird dann gesagt, das Mädchen sei auf Klassenfahrt, auch wenn es nie an einer Klassenfahrt teilnehmen durfte, oder es mache gerade ein Praktikum oder liege im Krankenhaus“, sagt die Papatya-Mitarbeiterin. Zeitgleich werde alles versucht, um das Mädchen zur möglichst unauffälligen Heimkehr zu bewegen. Ist die Schande erst einmal bekannt geworden, muss die Familienehre wiederhergestellt werden – schlimmstenfalls durch Entführung und Ermordung der eigenen Tochter oder Schwester.

Vor diesem Hintergrund wird klar, welchen Mut eine junge Frau aufbringen muss, wenn sie ein selbstbestimmtes Leben führen will: Sie verliert alle Bindungen. 60 bis 70 solcher Frauen nimmt Papatya jährlich auf; in den vergangenen 20 Jahren waren es insgesamt rund 1500. Sie wohnen erst für einige Monate in einer Zufluchtswohnung. Mehr als die Hälfte der Schutzsuchenden in Berlins Frauenhäusern sind laut Integrationsbeauftragtem mittlerweile Migrantinnen.

Fatina Keilani

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