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Berlin: Mit „Charly“ durch die Berliner Geschichte

Die Literaturwissenschaftlerin Tatjana Walter bietet auf Elektromofas eine etwas andere Stadtführung an

Da stehen die kleinen Dinger in Knallrot und Silber am Straßenrand. „Sie sind leicht zu fahren, werden aber ein bisschen unterschätzt“, warnt Tatjana Walter. Die Literaturwissenschaftlerin bietet seit dem Frühsommer eine etwas andere Stadtführung durch Berlins Mitte. Auf Elektromofas der Marke „Charly“ vom Motorrad- und Zweiradwerk MZ im sächsischen Zschopau macht Tatjana Walter mit ihren Kunden eine Reise durch die Geschichte des städtischen Zentrums. Den vielen Besichtigungstouren per Panoramabus oder zu Fuß will die Fremdenführerin Walter ihr Konzept entgegensetzen: individuell, die Füße schonend und umweltfreundlich.

„Die meisten Teilnehmer sind Berliner“, sagt sie. So ist es auch bei der kleinen Gruppe, die etwas über jüdisches Leben rund um die Hackeschen Höfe erfahren möchte. Bei der Gymnasiallehrerin Franziska Rietdorf steht das Thema Migration auf dem Lehrplan. Sie will mit ihren Schülern über das Leben der Juden und Hugenotten in Berlin arbeiten. „Ich dachte, ich gucke mir das mal an“, sagt sie.

Der Start ist noch etwas unsicher. Ein Dreh am Lenkergriff und „Charly“ rollt los. Von der ruhigen Joachimstraße geht es gleich in die verkehrsreiche Rosenthaler Straße. Zum Glück ist nach kurzer Fahrt der erste Stopp. „Der rote Faden sind die Menschen“, sagt Walter. Sie beginnt mit ihrer Führung „Jüdische Lebenswege“ an einer Grünfläche, wo früher die Alte Synagoge stand. Hier in der Rosenstraße verhinderten in der NS-Zeit 43 Frauen mit ihrem mutigen Protest den Abtransport ihrer Männer ins Konzentrationslager.

Schon etwas sicherer geht die Fahrt weiter zum Haus des Deutschen Gewerkschaftsbundes am Henriette-Herz-Platz. „Hier hat die Gestapo gesessen“, berichtet Walter und erzählt wenig später von Henriette Herz und Rahel Varnhagen, deren berühmte Salons einst die Treffpunkte der Gesellschaft waren. Bei der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße erwähnt sie einen Polizisten, der in der Reichspogromnacht 1938 den Brand des Gotteshauses verhinderte.

Kreuz und quer führt der Weg durch die Spandauer Vorstadt und das Scheunenviertel. Die Gruppe ist inzwischen mutiger geworden. Wie ein Hummelschwarm surren die „Charlys“ nun mit 20 Stundenkilometern Spitzengeschwindigkeit durch die Straßen. Passanten bleiben erstaunt stehen, manche erkundigen sich interessiert nach den Fahrzeugen.

Die Teilnehmer der Stadtführung rollen souverän weiter zu Stationen der Geschichte: die erste Volksküche, die erste öffentliche Bibliothek, die Besen- und Bürstenwerkstatt für Blinde, deren Besitzer Otto Weidt einige seiner jüdischen Mitarbeiter vor dem KZ retten konnte.

Nach rund drei Stunden steigen alle Teilnehmer zufrieden von den Mofas. „Das war mal was ganz anderes“, sagt die Lehrerin zu der außergewöhnlichen Tour. Noch bis Oktober bietet die Literaturwissenschaftlerin Walter diese und eine weitere Route im Prenzlauer Berg an. Im kommenden Mai will sie dann mit mindestens einer neuen Führung wieder starten. Margret Scholtyssek / dpa

Informationen im Internet:

www.berlin-sight.de

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