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Problemkind Steve

© Shayne Lavardière/ promo

"Mommy" von Xavier Dolan: Der Junge, der die Leinwand aufreißt

In seinem Independent-Streifen "Mommy" untermalt Xavier Dolan die ungewöhnliche Psyche eines Heranwachsenden mit ausgelutschter Chart-Musik.

„Man kann niemanden nur dadurch retten, dass man ihn liebt“, sagt eine ältere Frau und lässt Diane (Anne Dorval) die Entlassung ihres Sohnes aus der psychiatrischen Anstalt unterschreiben. Es ist ein Rauswurf. Steve (Antoine-Olivier Pilon) hat die Cafeteria angezündet, ein Junge verbrannte sich die Haut und muss operiert werden.

Zu Hause in Quebec. In Zeitlupe wirft sich Steve auf sein Bett. Wieder und immer wieder. Goldenes Licht fällt durch die dünnen Vorhänge seines Kinderzimmers. Er ist 15, hat kurze blonde Haare, trägt eine silberne Halskette und ein weißes Muskelshirt. In einer Clique wäre er der Anführer, weil er null Respekt hat. Aber er hat keine Freunde.

„Kann man sich hier nicht mal in Ruhe einen runterholen?“

Seine Mutter Diane macht sich mit ihrem glühenden Kippenstummel die nächste Zigarette an und versprüht Vanille-Raumspray. Auch auf der Waschmaschine steht ein Aschenbecher. Sie ist schlank, attraktiv, irgendwie auch cool, aber aus einer anderen Zeit, wo man noch Monster-Schlaghosen über Plateausohlen-Stiefeletten tragen konnte. Der Vater ist tot.

Der nächste Morgen. „Klopf doch an“, brüllt Steve und zieht hastig die Decke über seinen Kopf. „Kann man sich hier nicht mal in Ruhe einen runterholen?“ Diane zieht die Vorhänge auf und faucht: „Steh auf, hier riecht es ja wie im Zoo“. Steve will Krawall, sucht Stress, schlägt seine Mutter, aber Augenblicke später kommt er mit Kajal geschminkt in die Küche und will zu kanadischer Folklore tanzen.

"Blue" von Eiffel 65 untermalt den Longboard-Trip

Diane wird der Job gekündigt, jetzt muss sie bei reichen Leuten Laub aus dem Pool fischen. Steve braucht Betreuung, sie klopft bei der Nachbarin Kyla (Suzanne Clément). Deren Familie ist spießig, der Mann ist ein Informatiker mit Brille und kurzen schwarzen Haaren, die Kinder sieht man nur Hausaufgaben machen und nach der Mutter rufen: „Komm endlich rüber, das Essen steht auf dem Tisch“. Kyla gibt Steve Nachhilfeunterricht. Er verliebt sich in die erwachsene Frau.

Steves Liebe zu seiner Mutter
Steves Liebe zu seiner Mutter

© Shayne Lavardière/ promo

Die Situation scheint sich zu bessern und es kommt zu einer Szene, die einem den Stecker zieht. Bisher war der Film im 1:1 Format gedreht, das Bild ist also quadratisch, nicht wie sonst über die volle Breite des Bildschirms. Aber während Steve mit dem Longboard über den Asphalt gleitet, breitet er die Arme aus und reißt das Bild auf. Das sitzt.

Dazu läuft Chart-Musik. White Flag von Dido, Wonderwall von Oasis, Blue von Eiffel 65, alles dabei. Das fällt kaum auf, nur im Trailer wundert man sich darüber. Es zieht einen noch mehr in die Geschichte, weil sie einem so vertraut vorkommt. 

"Mommy" funktioniert nur in Originalsprache

Steve ist ehrlich, direkt, denkt nicht an die Zukunft. Will beschützen, gebraucht werden. Hasst Bevormundung. Man hat das Gefühl, er versteht gar nicht, dass es merkwürdig ist, wenn er ausrastet. Für ihn wirkt es logisch und völlig natürlich. Für die anderen ist es unerträglich.

Steve (Antoine-Olivier Pilon) und seine Mutter (Anne Dorval)
Steve (Antoine-Olivier Pilon) und seine Mutter (Anne Dorval)

© Shayne Lavardière/ promo

Der Film hat nur ein großes Problem, besonders deutlich in folgender Szene. Diane und Kyla fahren Fahrrad, Steve rollt auf einem Einkaufswagen. Er biegt auf eine dreispurige Straße, die Autos hupen, er bewirft sie mit Paprika und brüllt ein Wort, das mit „Freiheit!“ übersetzt wird. Das passt überhaupt nicht. Die Szene ist so stark, aber nur auf Französisch. Das abgewetzte Straßen-Quebecois ist nicht synchronisierbar. Also bitte im Original gucken.

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Simon Grothe

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