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Berlin: Nach dem Essen ist noch lange nicht Schluss

Friedrichshain-Kreuzberg. Es ist mollig warm im Kiezcafe in der Wühlischstraße Nr.

Friedrichshain-Kreuzberg. Es ist mollig warm im Kiezcafe in der Wühlischstraße Nr. 42 im Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Die alten Sofaecken sind allesamt belegt, Zeitungen rascheln und Schachfiguren klappern. Es durftet nach einem Gemisch aus Kaffee, Tee und Zigaretten. Eine ganz gewöhnliche Kneipe könnte man denken. Und doch ist alles ganz anders hier.

Das Kiezcafe ist eine Einrichtung für obdachlose Menschen. Sieben Tage die Woche steht die Tür offen rund um die Uhr für jedermann, der Hilfe oder vielleicht nur ein Dach über dem Kopf sucht. Wo tagsüber Sessel, Tische und Stühle stehen, werden nachts die Feldbetten aufgeklappt: Die absolute Ausnahme in Berlin - und ein Zufluchtsort für viele Menschen, die auf der Straße leben.

Zwei Jahre gibt es diesen Anlaufpunkt nun schon. Er ist für viele ein Zuhause geworden. Robert Schwirtz, genannt Robby, kommt fast jeden Tag ins Kiezcafe. "Es ist alles so familiär und gemütlich. Ich kann in Ruhe lesen oder einfach mit den Leuten quatschen", sagt er. Bis vor kurzem noch hat der gebürtige Luxemburger hier auch oft übernachtet. Die Einrichtung wurde sein Rettungsanker, als sich alle seine Hoffnungen in Luft auflösten. 1996 war Robby ohne eine einzigen Pfennig in der Tasche nach Berlin gekommen. Er wollte hier neu anfangen, einen Job in der angeblich "blühenden Kulturszene" finden. "Tja, das stellte sich als extrem schwierig heraus. Obwohl ich früher als Regieassistent am Theater gearbeitet habe, Festivals organisierte, verloren sich alle Angebote im Sande". Erst fand bei Freunden Unterschlupf, dann saß er mittellos auf der Straße. In einer exzessiven Saufphase hat es ihn dann per Zufall in das Kiezcafe verschlagen. Dort fand er Hilfe und Rat. Nach einem Krankenhausaufenthalt fand er vor einem halben Jahr einen Platz im "Betreuten Wohnen". Doch wohl fühlt er sich dort nicht. Ihm fehlen die sozialen Kontakte. "Man darf niemanden mit auf das Zimmer nehmen, nicht mal auf einen Kaffee", empört er sich.

Jürgen Dinscher kennt die Probleme nur zu gut. Er selbst war einmal obdachlos. Nach der Trennung von seiner Frau, schmiss er seinen Job und packte seine Koffer. "Ich wollte einfach nur weg", erzählt er nachdenklich "ohne dabei an irgendwelche Konsequenzen zu denken". Sein Ziel war Berlin. Doch auch er hatte kein Glück bei der Arbeitsuche. "Ich selbst habe ja gemerkt, wie schwer es ist aus dem Strudel herauszukommen." Während seiner Wohnungslosigkeit lernte er viele Einrichtungen kennen. "Die meisten haben nur ein oder zwei Tage die Woche offen und auch immer nur für wenige Stunden. An menschlicher Wärme fehlt es in Notübernachtungen und Wärmstuben oft ganz. Man wird einfach mit einem Essen oder Bett abgespeist und muss wieder gehen. Die Obdachlosen sind ständig auf der Suche nach einer Bleibe. Eine Art Zuhause gibt es für sie nicht". Die Gründe, warum die Menschen ihr Zuhause verlieren, sind vielfältig und reichen von Schulden über persönliche Krisen durch Krankheit oder Tod eines Angehörigen bis hin zum Alkohol. Insgesamt 6513 Menschen waren im vergangenen Jahr in Berlin als obdachlos registriert, 4500 davon sind Männer. Knapp 500 der Obdachlosen in der Hauptstadt sind jünger als 18 Jahren, rund 1600 seit über zwei Jahren ohne festen Wohnsitz.

Ende 1999 gründete Dinscher deshalb die Landesbetroffeneninitiative wohnungsloser Menschen Berlin e.V.. Kurze Zeit später öffnete das 120 Quadratmeter große Kiez-Cafe seine Pforten. "Ich wollte einfach vieles besser machen und eine ganz andere Atmosphäre schaffen", sagt der 47-Jährige.

Den Bedürftigen einen Anlauf- und Ruhepunkt zugleich geben - das war Dinschers Idee. Er wollte sich nicht nur auf tagesaktuelle Bedürfnisse wie Essen, Schlafen und Duschen beschränken. "Oft sind es die fehlenden sozialen Kontakte, die den Obdachlosen schwer zu schaffen machen. Alle denken, mir geht es alleine so", pflichtet die Sozialarbeiterin Andrea Rosenkranz bei. Sie hat ein offenes Ohr für jeden, der Hilfe sucht. "Die Leute müssen aber auf uns zukommen. Nur dann geben wir Tips, helfen bei Anträgen oder vermitteln Kontakte." Hilfe zur Selbsthilfe, so lautet das Motto. Einmal wöchentlich schauen auch zwei ehrenamtliche Ärztinnen im Kiez-Cafe vorbei und versorgen die Obdachlosen medizinisch.

Und noch etwas macht die Einrichtung einmalig. Die Menschen können hier bleiben, solange sie wollen. Nicht nur tagsüber, sondern auch nachts. In anderen Notunterkünften dürfen Wohnungslose höchstens drei Tage verweilen. Im Kiezcafe liegt am Tresen eine Übernachtungsliste aus, in der sich die Bedürftigen eintragen. Das Prinzip: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Wer hier schläft, muss jedoch anpacken: Reinigung der Sanitäranlagen, Tresen- und Küchendienst im Drei-Schicht-Betrieb.

Zwölf Schlafplätze gibt es im Kiezcafe, darunter zwei für Frauen. Doch das reicht hinten und vorne nicht. Die Einrichtung braucht mehr Raum. Schon in den Sommermonaten waren die Betten immer voll belegt. Jetzt im Winter stehen noch mehr Menschen vor der Tür. "Wir müssen so oft Leute abweisen, weil wir einfach keinen Platz mehr frei haben", meint Jürgen Dinscher. Deswegen tüftelt er bereits an einem weiterführenden Konzept, damit Obdachlose längerfristig von der Straße geholt werden können. Ein unsaniertes Haus soll in Friedrichshain von den Bedürftigen mit eigenen Kräften zum Wohnen hergerichtet werden. Eine Anfrage an das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg ist bereits auf Zustimmung gestoßen. Nun heißt es abwarten. Und so müssen wohl weiter viele obdachlose Menschen auf den Straßen über den Winter kommen - irgendwie.

Susan Odenthal

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