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Shirin Kreße beim Bundesparteitag der Grünen in Karlsruhe im November 2023.

© Gestaltung: Tagesspiegel/IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Update

Erfundene Belästigungsvorwürfe gegen Gelbhaar: Ex-Grünen-Politikerin bricht ihr Schweigen und widerspricht Verdacht nicht

Berlins Grüne verwehrten Stefan Gelbhaar die Bundestagskandidatur. Doch plötzlich zog der RBB Berichte über Belästigungsvorwürfe zurück. Nun gibt es Hinweise, wer dahinter stecken soll.

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Nach dem Skandal um mutmaßlich erfundene Belästigungsvorwürfe gegen den Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar gibt es bei den Berliner Grünen erste personelle Konsequenzen. Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Mitte, Shirin Kreße, legte am Sonnabend ihr Mandat nieder und trat aus der Partei aus.

Nach Tagesspiegel-Recherchen soll Kreße unter der falschen Identität „Anne K.“ dem Sender RBB eine eidesstattliche Versicherung abgegeben haben, in der Gelbhaar sexuelle Belästigung vorgeworfen wurde.

In einer E-Mail an den Kreisvorstand von Mitte und an die Vorsteherin der BVV erklärte sie am Samstagnachmittag ihren Verzicht auf das Mandat zum schnellstmöglichen Zeitpunkt, nannte aber keine Gründe dafür. Das bestätigten mehrere Quellen aus der Partei auf Bundes-, Landes- und Bezirksebene dem Tagesspiegel.

Daneben erklärte Kreße ihren Parteiaustritt. Das bestätigte Nina Stahr, Co-Landeschefin der Berliner Grünen, am späten Samstagabend. Damit kommt Kreße einem Parteiausschluss zuvor. Denn am Sonnabend hatte die Spitze der Bundespartei bereits angekündigt, ein Parteiausschlussverfahren durchzuführen, „sobald die Person (…) uns bekannt wird“.

Kreße spielte von Beginn eine aktive Rolle in der Causa Gelbhaar

Kreße selbst reagierte auf Anrufe und schriftliche Anfragen zunächst nicht. Sie ist in der Landespartei, insbesondere im linken Flügel, gut vernetzt, war Sprecherin der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Feminismus und Mitarbeiterin des Grünen-Politikers Ario Mirzaie, dem Sprecher für Strategien gegen Rechts seiner Fraktion im Abgeordnetenhaus. Seit Sonnabend arbeitet sie nicht mehr für ihn.

Am Sonntagabend meldete sich Kreße dann doch noch zu Wort. Den Vorwürfen, sie habe die angebliche sexuelle Belästigung durch Gelbhaar erfunden, widersprach sie nicht. „Ich bin am Samstag aus der Partei Bündnis90/Die Grünen ausgetreten, habe alle parteiinternen Ämter niedergelegt, mein Mandat in der BVV Mitte niedergelegt und meinen Job in einem Grünen-Abgeordnetenbüro gekündigt“, teilte sie der DPA mit.

„Grund dafür ist, dass während ich mich mit den Vorwürfen, die gegen mich erhoben wurden, auseinandersetze, ich möglichen Schaden von der Partei, aber auch Betroffenen sexualisierter Gewalt abwenden möchte“, zitiert die Nachrichtenagentur sie.

Die 27-Jährige hatte in der Gelbhaar-Affäre nachweislich von Beginn an eine aktive Rolle gespielt. Kurz bevor der Parteitag der Berliner Grünen Mitte Dezember die Landesliste für die Bundestagswahl bestimmte, hatte Kreße bei einer Runde der Parteilinken laut Teilnehmern die Belästigungsvorwürfe erhoben.

Danach brachen in der Causa Gelbhaar alle Dämme – trotz Unschuldsvermutung. Aus dem Bundesvorstand wurde Gelbhaar, ein Realo, zum Verzicht auf die Kandidatur um Platz zwei der Landesliste für den Bundestag gedrängt. Nutznießer war der Neuköllner Bundestagsabgeordnete und Wahlkampfmanager von Robert Habeck, Andreas Audretsch.

Landesspitze sprach über „vorliegende schwerwiegende Vorwürfe“

Er gehört zum linken Parteiflügel und weist nun jede Verbindung zu Kreße oder einer möglichen Intrige gegen Gelbhaar von sich. Bekanntlich war Audretsch bis vor zehn Jahren als Hörfunk-Journalist unter anderem für den RBB tätig.

Auch Gelbhaars Direktkandidatur wurde infrage gestellt, obwohl Gelbhaar schon im November mit 98 Prozent gewählt worden war. Bei einer Neuwahl vor knapp zwei Wochen wurde dann die Abgeordnete Julia Schneider, die ebenfalls zum Realo-Flügel zählt, anstelle von Gelbhaar zur Direktkandidatin bestimmt.

Zuvor hatten die Landesparteichefs Nina Stahr und Philmon Ghirmai Gelbhaar unter Druck gesetzt, sie hatten in einer Mitteilung über „vorliegende schwerwiegende Vorwürfe“ gesprochen. Inzwischen ist die Mitteilung von der Internetseite der Partei gelöscht.

Der RBB saß einer Täuschung auf

Worum es genau bei den Vorwürfen ging, wusste Gelbhaar aber lange nicht. Der Ombudsstelle der Bundespartei lagen mehrere Beschwerden vor. Es sei immerhin eine Ombudsstelle „gegen sexualisierte Gewalt“, wie sich der Kreuzberger Werner Graf, Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, von der taz zitieren ließ.

Der Ton war gesetzt, doch Gelbhaar konnte sich nicht wehren. Die Ombudsstelle trug auch nichts zur Aufklärung bei. Auf der Website der Stelle heißt es: „Wir stellen die Betroffenengerechtigkeit in den Vordergrund. Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend.“

Der Kreisverband der Grünen in Pankow hat eine erneute Wahlversammlung angekündigt, bei der über die Direktkandidatur für die Bundestagswahl entscheiden.

© Christoph Soeder/dpa

Zum Verdacht, dass Gelbhaar Frauen sexuell belästigt haben soll, trug auch der RBB bei. Am Freitag musste der Sender aber zugeben, dass er offenbar einer Täuschung aufgesessen war. Eine Grünen-Bezirkspolitikerin habe die Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Gelbhaar erfunden und dafür eine andere Identität vorgetäuscht. Der Sender löschte alle Beiträge dazu.

Eine „Anne K.“ hatte dem RBB zwar eine eidesstattliche Versicherung vorgelegt, doch der Sender hatte diese offenbar nicht ausreichend geprüft. Pikant: Das Justiziariat des RBB hatte alle Berichte zu den Vorwürfen abgesegnet.

Am Montag dann hatte der Tagesspiegel den Sender zu zweifelhaften Punkten in den Berichten befragt. Denn „Anne K.“ existiert laut amtlichem Melderegister in Berlin gar nicht. Zudem enthielt die eidesstattliche Versicherung kein Geburtsdatum. Vier Tage nach der bis dahin unbeantworteten Anfrage ging der Sender dann selbst an die Öffentlichkeit.

Besonders wichtig ist ihr hierbei ihre intersektionale, feministische Perspektive.

Grüne Jugend Berlin-Mitte über Shirin Kreße

Der RBB geht inzwischen selbst davon aus, dass die Bezirkspolitikerin die eidesstattliche Versicherung gefälscht hatte. In Telefonaten hätte „Anne K.“ den angeblichen Übergriff von Gelbhaar geschildert, persönlich getroffen hatte die Redaktion die Frau nicht, verbreitete aber den Vorwurf, Gelbhaar habe sie zu einem Kuss gezwungen.

Zwei andere schwere Vorwürfe beruhten auf anonymen E-Mails, die dem RBB vorliegen und offenbar auch der Ombudsstelle. Auch diese E-Mails sollen von Kreße stammen. Laut RBB bestreitet sie aber, die Vorwürfe erfunden zu haben. Sie habe jedoch keine Belege für die Existenz von „Anne K.“ geliefert.

Beim Bundesparteitag 2023 wetterte sie gegen Adenauer

Der RBB geht davon aus, dass die drei Hauptvorwürfe „frei erfunden“ sein könnten. Wesentliche Vorwürfe seien nun nichtig, andere Vorwürfe hätten eine deutlich „geringere Fallhöhe“, erklärt der RBB.

Kreße wurde mit der Wahl 2021 erstmals Bezirksverordnete, sie war auf Platz fünf der Bezirksliste und stieg gleich in den Fraktionsvorstand auf. Ihre Machtbasis hatte sie beim Parteinachwuchs „Grüne Jugend“, wurde Fraktionschefin und seither jedes Jahr im Amt bestätigt. Zudem war sie Fraktionssprecherin für Gesundheit und Queerpolitik.

Die „Grüne Jugend“ schmückte sich mit Kreße und beschrieb sie mit den Worten: „Besonders wichtig ist ihr hierbei ihre intersektionale, feministische Perspektive, um mehr Repräsentativität für die Bürger*innen zu schaffen und sich für Menschen jeglicher Diskriminierungserfahrungen starkzumachen.“

Deutschlandweit bekannt geworden war Kreße, Jahrgang 1997, beim Bundesparteitag der Grünen in Karlsruhe im November 2023. Sie hatte beantragt, ein Zitat des ersten Bundeskanzlers der Bundesrepublik, Konrad Adenauer (CDU), zur europäischen Friedensordnung aus dem Wahlprogramm zu streichen. Kreße befand, Adenauer sei in seiner Zeit selbst für CDU-Politikerinnen zu sexistisch gewesen.

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