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Bernhard Kaczinski

© privat

Nachruf auf Bernhard Kaczinski: Hilf dir selbst

Aufs Dach baute er ein Schwimmbecken, unter den Garten einen Atombunker. Schmerzhaft hatte er gelernt, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen.

Was für ein Spaß. Die Zuschauer beben vor Lachen. Manche kreischen kurz auf. Jemand serviert ihnen Bier. Vorn auf der WDR-Studiobühne gibt Jürgen von der Lippe den Zeremonienmeister. Er redet und springt auf und redet weiter. Auf dem Tisch vor ihm liegen Gegenstände: eine rote Heimhandwerkerbohrmaschine, Diamantbohrer, verschiedene Fläschchen, ein Modellkopf mit silbernem Helm und riesigem Gebiss. In einem Ledersessel rechts sitzt eine Frau, links ein Mann. Er trägt einen gelben Pullunder über einem karierten Hemd und spricht mit sanfter Stimme. Wenn man möchte, kann man ein Lächeln um seine Mundwinkel erkennen.

Die Fernsehsendung, die am 11. September 1986 live übertragen wird, heißt „So isses“, Jürgen von der Lippe präsentiert kuriose Geschichten und kuriose Leute. Heute ist der Taxifahrer Bernhard Kaczinski dran. Er verarztet seine Zähne selbst. Und genau das soll er am linken unteren Backenzahn des Silberhelmmodells vorführen. Er nimmt die rote Bohrmaschine in die Hand, setzt an, ein Zuschauer ruft „Aua“, Bernhard erklärt: „Ich geh runter bis zum Kiefer“, das Publikum quietscht vor Grauen und Lust, Bernhard fährt fort, spricht über Betäubungsmittel, Füllungen, Zweikomponentenkleber. Marlies, seine Frau, sagt jetzt auch etwas: „Bei mir hat er es schön gemacht“, Jürgen von der Lippe fordert Bernhard auf, sein Gebiss in die Kamera zu halten, Bernhard öffnet den Mund, Nahaufnahme, die Leute schreien fast. Wäre ihnen das Lachen im Hals stecken geblieben, hätten sie Bernhards Geschichte gekannt? Jüdische Mutter, gelber Stern, Zwangsarbeiterlager.

Zwangsarbeiter im Bunker

Ob Bernhard sich diese Frage selbst stellte, weiß niemand. Sicher ist, dass er so gut wie nie über die Nazizeit gesprochen hat. Was die Leute hingegen stets erlebten: einen zutiefst freundlichen Menschen, einen Bastler und Erfinder mit kindlich-schalkhaften Zügen. Sein Ziehsohn sagt: „Er war wie ein hoch intelligenter Achtjähriger.“

Es gibt die These, man bleibe sein ganzes Leben lang so alt wie zum Zeitpunkt eines Traumas, das man durchlitten hat. Bernhards Kindheitstrauma: die Judenverfolgung. Sein Vater war Katholik. Man drängte ihn, seine Frau zu verlassen. Er weigerte sich. Bernhard wurde nach Saint-Omer, in den Norden Frankreichs, deportiert, wo er ab 1944 als Zwangsarbeiter an einer Bunkeranlage der deutschen Wehrmacht mitbaute, einer Startbasis für V2-Raketen in Richtung England. 1947, nach verschiedenen Kriegsgefangenenlagern, kehrte er zurück nach Berlin. Er heiratete, er bekam einen Sohn, die Ehe zerbrach. Dann traf er Marlies, deren Sohn, damals fünf, auch zu seinem wurde. Von acht Uhr abends bis acht Uhr früh fuhr er Taxi, am Tage zeigte er ihm seine ganze, erstaunliche Welt.

Zum Beispiel baute er ein Haus. Aber nicht wie jedermann. In Rudow gab es ein Stück Land, einen trostlosen Acker, ein bisschen Erde mit Gestrüpp darauf. Bernhard kaufte das Grundstück und begann zu graben, zu schleppen, aufeinanderzuschichten, Stein auf Stein, von einer Tiefgarage bis in die zweite Etage hinauf. Als er oben angekommen war, setzte er eine Terrasse und ein Schwimmbecken aufs Dach. Er verlegte die Elektrik selbst und baute einen Aufzug ein. Die Leute beobachteten ihn und lachten; er nahm es ihnen nicht übel und lachte mit. Und dann fingen diese Leute irgendwann auch an, Häuser auf diesem Acker zu bauen. Eine neue Siedlung entstand. Und den Siedlungsgründer bat man, einen Namen für seine Straße auszusuchen. Bernhard entschied sich für „Kückenweg“.

Eines Tages kam der Sohn mit dem Fahrrad von der Schule und sah seinen Vater großflächig im Garten herumwirtschaften. „Wat machste denn da?“, fragte er. Bernhard sagte: „Ich baue einen Atombunker.“

Üblicherweise hätte man an der mentalen Intaktheit des Antwortgebers zweifeln müssen. Aber hier war ja Bernhard am Werk, der wieder einmal eine Bernhard-Idee „im Bernhard-Stil“, wie es sein Sohn nennt, umsetzte. Da stand dieser 56-Jährige, den man in seiner Jugend gezwungen hatte, Bunker zu bauen, mit der Schaufel in der Hand und grub, sechs Jahre lang. Grub sich unter dem Haus durch, verlängerte den Aufzug nach unten, bastelte unter anderem mithilfe der roten Bohrmaschine, die auch zur Zahnsanierung diente, einen kleinen Kran, dazu einen Flaschenzug, an dem eine Schubkarre hing.

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Nachdem der Bunker fertig war, verkaufte er das Haus. Und sagte dann: „Jetzt baue ich mir ein Boot.“ Das Zwangsarbeiterlager der Deutschen hatte nicht weit vom Meer entfernt gelegen. Er machte sich an die Arbeit. Fertigte zunächst Modelle aus Lehm und Glasfaser. Das Boot sollte für Rollstuhlfahrer geeignet sein. Er ließ einen Rumpf aus Stahl herstellen. Baute aus alten Taxis die Motoren aus und in das Boot ein. Installierte einen Aufzug. Schipperte Menschen, die nicht mehr gehen konnten, über die Berliner Gewässer. Sein größter Traum allerdings war ein Segel. Doch ihm ging das Geld aus. Er fand einen Teilhaber, der die Hälfte des Bootes kaufte, für viel zu wenig. Aber das bekümmerte ihn nicht weiter. Denn jetzt ging es los, zusammen mit seinem Sohn, vom Britzer Hafen in Richtung Spanien, wo Marlies ein Apartment gekauft hatte. Sie fuhren über die Kanäle, Holland, Belgien, Frankreich. Er rechnete, hantierte mit dem Sextanten, beugte sich über Karten. Und am Golfe du Lion, einer Bucht im Mittelmeer, stellte er endlich den Mast auf und hisste das Segel. Sie glitten die Küste entlang, die See glitzerte, der Himmel spannte sich blau über ihnen, sie waren glücklich.

Bernhard und Marlies machten es sich zur Gewohnheit, die Hälfte des Jahres in Spanien zu verbringen. Dort saß er auch nicht einfach in der Sonne, sondern entwickelte eine Art Rikscha mit Elektromotor und Solardach, alles selbst gebaut, natürlich, alles im „Bernhard-Stil“. Und immer noch lachten die Leute gutmütig über ihn und er lachte gutmütig zurück.

Dann, 2011, erkrankte Marlies, die Ärzte versuchten alles, 2014 starb sie. Bernhard arbeitete ehrenamtlich in einem Heim. Er bekam Schlaganfälle, die er ganz gut wegsteckte. Doch irgendwann war auch seine Kraft am Ende. Einen Tag nach seinem Tod holten ihn, so hatte er es sich in den Kopf gesetzt, Leute von Gunther von Hagens’ „Körperwelten“ ab.

[Wir schreiben regelmäßig über nicht-prominente Berliner, die in jüngster Zeit verstorben sind. Wenn Sie vom Ableben eines Menschen erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben sollten, melden Sie sich bitte bei uns: nachrufe@tagesspiegel.de. Wie die Nachrufe entstehen, erfahren Sie hier.]

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