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Holocaust-Überlebende und Ehrenbürgerin Berlins: Margot Friedländer.

© Tagesspiegel/Mario Heller/Bearbeitung: Tagesspiegel

Margot Friedländer ist tot: Botschafterin der Menschlichkeit

Sie widmete ihr Leben dem Kampf gegen das Vergessen: Margot Friedländer, Holocaust-Überlebende und Ehrenbürgerin Berlins. Ein Nachruf auf eine Unerschütterliche.

Stand:

Am Ende ihres Lebens ist aus Margot Friedländer ein Megastar geworden. Auch im Alter von über 100 Jahren konnte Berlins Ehrenbürgerin das gesellschaftliche Leben der Stadt offensichtlich genießen.

Dazu genügt ein beinahe beliebiger Blick in ihren Terminkalender: In der Woche rund um die große Feier zu ihrem 103. Geburtstag, im November 2024, wurde sie auf der Aidsgala als ganz besonderer Ehrengast begrüßt, nahm in München den Bambi in der Kategorie „Mut“ entgegen und staunte bei der Palazzo-Premiere über die Kunststücke der Artisten: „Sowas habe ich noch nie gesehen.“ Der Orthopädie-Professor Karsten Dreinhöfer hatte sie, wie so oft, begleitet.

Seid Menschen!

Margot Friedländer

Eine Woche später stand die große Freundeskreisgala im Jüdischen Museum im Kalender, bei der sie mit dem renommierten Preis für Verständigung und Toleranz ausgezeichnet wurde. Sie war das Gesicht zu dem Satz „Nie wieder ist jetzt!“. Manchmal ließ sich das Leid, das sie als junges Mädchen erlebte, unvermutet erahnen.

Joe Biden wollte sie gern kennenlernen

Bei der Aids-Gala in der Deutschen Oper kommt kurz der Sohn von Hans Rosenthal an ihren Tisch. „Sie kannten meinen Vater.” Rosenthal war ein Schulkamerad ihres von den Nazis ermordeten Bruders Ralph gewesen, hatte ihr erzählt, wie sehr der bewundert und oft auch um Hilfe gebeten wurde, weil er so ein Mathe-Genie war.

Mit 88 Jahren hat sie ihr Lebenswerk begonnen. Viele haben ihr dabei geholfen, am Ende sind es immer mehr geworden. Alle wollten sie sehen und kennenlernen, auch Joe Biden bei seinem letzten Besuch als US-Präsident in Berlin. Mit ihrem Mantra „Seid Menschen” ist sie zu einer modernen Prophetin geworden, zur Ruferin in einer Welt, in der Hass und Ausgrenzung wieder zunehmen.

Mit 102 kam sie aufs Titelbild der „Vogue“

Margot Friedländer war eine ganz und gar erstaunliche Frau. Verblüffend war ihr mädchenhaft anmutender Charme, ihre unglaubliche Energie. Ihre Lebensfreude machte sie aus, die wachen, neugierigen Augen, die Überzeugung, mit der sie unermüdlich gegen Hass und für Versöhnung eintrat.

Dazu kam das modische Gespür, mit dem sie auch im hohen Alter Wert auf schicke Kleidung legte. Eine Berliner Designerin hatte das Abendkleid für die Bambi-Verleihung geschneidert. Aus einem Shooting fürs Titelbild der „Vogue“ besaß sie ein Cocktailkleid, das sie besonders mochte. Berlin, ihre Heimatstadt, hat sie immer geliebt, trotz des Unrechts, das ihr geschehen ist, trotz der Tatsache, dass sie 64 Jahre ihres Lebens in New York verbracht hat.

Mit 101 gründete sie ihre Stiftung gegen das Vergessen

Noch im Alter von 101 Jahren gründete sie mit ihrem Privatvermögen eine Stiftung, um die Weiterführung ihres Lebenswerks zu sichern. „Ich spreche für die, die nicht mehr sprechen können. Für die sechs Millionen Menschen, Männer, Frauen, Kinder, die man umgebracht hat, nur weil sie Juden waren“, sagte sie immer wieder.

Auch in einer Zukunft ohne Zeitzeugen soll die Stiftung weiterhin Zeugnis geben, sich aber auch generell für Freiheit und Demokratie einsetzen.

Kindheit im Berlin der goldenen 20er Jahre

Die Kindheit im Berlin der goldenen 20er Jahre war schön. Sie war geprägt von der geliebten Großmutter, der Faszination der Knopf- und Kleiderschmuckläden. Ferien in Bad Saarow und Familientreffen im Ruderclub „Welle Poseidon“ in Grünau liebte sie.

Die Trennung der Eltern nach 15 Jahren Ehe warf einen ersten Schatten. Der darauffolgende Umzug traf Margot damals mehr als Hitlers Machtergreifung. Auch die erste große Liebe während ihrer Ausbildung zur Mode- und Reklamezeichnerin ging ihr näher als die Umtriebe der Nazis.

Von der Familie blieben nur noch Erinnerungen.

© Tagesspiegel/Mario Heller

Dann kam der 9. November 1938. An diesem Tag endete endgültig der Glaube daran, dass alles noch gut werden könne. Ihren Bruder haben die Nazis unmittelbar vor der geplanten Flucht aus der Wohnung abgeholt. Das war im Januar 1943. Ihre Mutter wollte ihn nicht allein lassen, folgte freiwillig.

Das rettende Visum kam einfach nicht

Wie hatte sich die Mutter bemüht, ein rettendes Visum zu bekommen, um mit den Kindern Deutschland verlassen zu können. Vergeblich. Mutter und Sohn wurden ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht und dort ermordet. Auch der Vater kam dort um.

Margot musste sich verstecken, irrte allein durch die Berliner Nächte in der Hoffnung, Helfer zu finden. „Versuche, dein Leben zu machen“, die letzte Nachricht der Mutter, überbracht von einer Nachbarin, wurde ihr zur Verpflichtung und später zum Titel ihrer Autobiografie. Sie ließ sich im Untergrund die Nase operieren.

Vom Anhalter Bahnhof ins Konzentrationslager Theresienstadt

15 Monate lang war sie unterwegs in der Stadt, immer in Angst und auf der Suche nach dem nächsten Quartier, den nächsten Menschen, die bereit waren, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, um einer fremden jungen Frau zu helfen. Dann wurde sie doch erwischt. Letzte Station: Anhalter Bahnhof. Von dort wurde sie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.

Margot Friedländer im Oktober 2023 in ihrem Berliner Apartment.

© Mario Heller/Tagesspiegel/Mario Heller

Es grenzt an ein Wunder, dass sie das überlebt hat. In dem Buch „Versuche, dein Leben zu machen“ kann man ihre Odyssee nachlesen. Die Zeit im Konzentrationslager war geprägt von Kälte, Hunger, harter körperlicher Arbeit, Drohungen und Beschimpfungen. Ständig lauerte die Gefahr, krank oder weitergeschickt zu werden in den sicheren Tod nach Auschwitz, wie so viele Leidensgenossen im Lager.

15
Monate lang hat sich Margot Friedländer in Berlin verstecken müssen.

Als Theresienstadt endlich befreit wurde, wusste sie zunächst nicht wohin. Sie heiratete am Tag, bevor der letzte Rabbiner Theresienstadt verließ, einen alten Bekannten aus Berlin, Adolph Friedländer. Er wollte nach Amerika, und sie wusste, dass sie ihm folgen würde. Heimlich dachte sie schon in den letzten Sommertagen im befreiten Lager, wie es wäre, zurück nach Berlin zu gehen. Aber erst 2003 sollte sie die Heimatstadt wiedersehen.

1946 brachen ihr Mann und sie auf nach New York. Während das Schiff sich der Freiheitsstatue näherte, musste sie an ihre ermordete Familie denken, an die verzweifelten Bemühungen um ein rettendes Visum: „Hätte ich an dieser Stelle acht Jahre früher mit meiner Mutter und meinem Bruder gestanden, ich hätte vielleicht glücklich sein können.“

Rückkehr nach dem Tod des Ehemannes

Ihr Mann wollte, wie so viele jüdische Emigranten, nie wieder einen Fuß nach Deutschland setzten. Er wurde Leiter des jüdischen Kulturzentrums Y in der 92. Straße. Sie arbeitete als Schneiderin, später im Reisebüro. Das Ehepaar reiste in mehr als 50 Jahren Ehe durchaus nach Europa, in die Schweiz, nach Frankreich. Niemals nach Deutschland.

Erst nach dem Tod des Ehemannes kam sie 2003 im Rahmen des Besuchsprogramms des Senats zum ersten Mal wieder nach Berlin. Für André Schmitz war es „Freundschaft auf den ersten Blick“. Als Chef der Senatskanzlei war es damals seine Aufgabe, die Gruppe ehemaliger jüdischer Berliner zu begrüßen.

Das ist mein Berlin.

Margot Friedländer

Bei einem Spaziergang gelangte sie an die Ecke Leibnizstraße/Kurfürstendamm, schaute sich um und wusste: „Das ist mein Berlin.“ Endlich wieder zu Hause. Die Nazis hatten ihr alles geraubt und zerstört. Nur die Heimat nicht. Plötzlich war sie wieder da.

Ein Jahr später bekam André Schmitz Post aus New York. Margot Friedländer schrieb ihm, dass ein Freund, Thomas Halaczinsky, einen Film über ihre Reise nach Berlin gedreht hat. „Don’t Call It Heimweh“ eröffnete 2005 das Jüdische Filmfestival. Trotz allem und sehr zum Unverständnis ihrer New Yorker Freunde hatte sie gute Erinnerungen an die Menschen, die ihr geholfen haben. „Sie haben nicht weggesehen, obwohl sie das den Kopf hätte kosten können.“ Ein Kreuz, das sie in der Untergrundzeit zur Tarnung trug, hat sie später André Schmitz geschenkt.

Zoom Calls mit Schülern während der Pandemie

2010 brach sie die Zelte in New York ab und kehrte endgültig zurück in die Stadt, die sie liebte. Hier sah sie eine Mission. Unermüdlich trat sie in den Jahren nach der Rückkehr vor Schulklassen und Jugendgruppen auf. Sie erzählte aus ihrem Leben, warnte vor den Folgen von Antisemitismus und Rassismus.

Unermüdlich im Engagement für Menschlichkeit und Demokratie.

© Mario Heller/Tagesspiegel/Mario Heller

Im Schlafzimmer des kleinen Apartments in der Seniorenresidenz stand vor dem Fenster ein großer Computer. Auf dem las sie früh die „New York Times“. Von dem aus las sie in Zoom Calls vor Schülern noch während der Pandemie, als Live-Auftritte zeitweise unmöglich waren.

Die Bernsteinkette der Mutter

Immer dabei hatte sie den Judenstern, den sie als junges Mädchen tragen musste, die Bernsteinkette ihrer Mutter und deren Adressbuch, das ihr beim Überleben im Untergrund geholfen hatte.

Kuscheltiere auf dem Sofa.

© Mario Heller/Tagesspiegel/Mario Heller

Das Apartment erzählte viel von ihrer Persönlichkeit: Kuscheltiere auf dem Sofa, im Schrank die Handtücher, die sie aus Theresienstadt mitgenommen hatte, die Katze Lily, überquellende Bücherregale, überall Fotos an den Wänden, dazwischen eine Gastgeberin, die darauf besteht, Tee zu kochen und immer wieder feines Gebäck offeriert.

Sie ist eine Menschenfängerin.

André Schmitz

Zurückzukehren nach Berlin habe sie „nicht eine Sekunde bereut“, sagte sie oft. Im Gegenteil. Wann immer André Schmitz sie in der ersten Zeit mitnahm zu einem großen Event, der Aids-Gala in der Deutschen Oper zum Beispiel, machte sie sich rasch selbständig, tauschte mit neuen Bekannten Visitenkarten aus. „Sie ist eine Menschenfängerin“, sagt der frühere Staatssekretär.

Ich liebe meine Stadt.

Margot Friedländer

Bitter war sie nie, obwohl sie so viel Anlass dazu gehabt hätte. „Ich frage auch nicht, warum Gott das erlaubt hat“, sagte sie. Wenn sie in den Schulen las, war sie nicht böse, wenn die Schüler dabei mit den Handys spielten. „Wenn nur bei zweien oder dreien etwas hängenbleibt.“ Manchmal hat sie darüber nachgedacht, wie es sein konnte, dass Männer tagsüber Kinder töteten und abends mit ihren eigenen Familien zu Tisch saßen. Und kam zu dem Schluss: „Es ist nicht zu erklären.“

Bei der Feier, in der sie die deutsche Staatsbürgerschaft wieder annahm, sagte Margot Friedländer, man müsse sich doch für nichts bedanken, was einem einst geraubt wurde. Später stellte sie bei einer anderen Gelegenheit fest: „Ich bin ganz Berlinerin. Ich liebe meine Stadt.“

Und sie hat der Stadt wirklich Ehre gemacht, hat gezeigt, was in einer echten Berlinerin stecken kann. Sie gibt niemals klein bei. Sie lässt sich nicht schrecken. Margot Friedländer war schon 88 Jahre alt, als sie sich noch einmal völlig neu erfunden hat. Die restlichen Jahre ihres Lebens kämpfte sie dafür, dass die Welt besser wird. „Nie wieder!“, das war ihre letzte große Mission, für die sie mit unglaublicher Energie unterwegs war.

Auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee hat sie Platten anbringen lassen für ihre Mutter und den Bruder Ralph, dort, wo Oma Adele und Opa Wilhelm begraben liegen. Auf ihr eigenes Grab soll eine Gedenkplakette für ihren Mann kommen, der in New York begraben ist.

Ein letzter Gruß: Margot Friedländer am Mittwoch bei der Gedenkstunde des Berliner Abgeordnetenhauses zu 80 Jahren Kriegsende, zwei Tage vor ihrem Tod.

© dpa/Sebastian Gollnow

Am Freitag ist Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren in ihrem Berlin gestorben. Am Mittag hätte sie noch einen Termin im Schloss Bellevue gehabt: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wollte ihr das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verleihen.

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