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Ilse Heinrich

© privat

Nachruf auf Ilse Heinrich: Ein Lerchenmädchen!

Ihr Freiheitsdrang - vollkommen deplatziert! Wenn sie spricht, klingt das, als ob kein Sturm sie umwirft. Das täuscht.

Von Kerstin Decker

Sie wollte die Heckkabine, eine Heckkabine auf der „Aida“. Auf ihrem Balkon sitzen und auf den langen weißen Gischtstreifen schauen, den das Schiff hinter sich herzog. „Mein Strudel!“, hat sie gesagt. Als sei er ihre eigene Welle, ihre Lebenswelle. Stundenlang hielt sie es so aus, umkreischt von den Möwen, aber nicht nach Art der alten Leute, die sonst nichts mehr vorhaben im Leben. Sie hatte immer etwas vor. „Gehen wir in die Disco?“, fragte sie ihre Tochter kurz vor Mitternacht am 4. Tag ihrer Mittelmeerreise. Zuvor waren sie beim bordeigenen Oktoberfest.

Juli 2016. Ilse Heinrich war 92, hatte aber noch immer Angst, etwas zu verpassen. Eine 92-Jährige im Rollstuhl nach Mitternacht in der Disco? Andere Töchter hätten vielleicht versucht, die Mutter umzustimmen. Christina wusste, dass sie keine Chance hatte. Kurz darauf war Ilse Heinrich im Rollstuhl der Mittelpunkt der Borddisco. Fremde Männer spendierten ihr Bier. Die „Aida“ lag im Hafen von Neapel.

Mutter und Tocher kamen spät zurück, aber sie schliefen gut und lang: Zum Schluss des Spätaufsteherfrühstücks konnten sie es noch schaffen. Da würden die Kellner Ilse Heinrich wieder „Mama“ nennen. Sie mochte das sehr. Und dann der Ruf des Entsetzens: „Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen!“ Streng genommen konnte sie überhaupt nichts mehr bewegen. Der Bordarzt sprach aus, was beide Frauen dachten und doch nicht fassen konnten: Schlaganfall. Das hieß: Runter vom Schiff, sofort!

Der blutige Husten wird siegen

Zwei Wochen später hatten drei italienische Krankenschwestern Tränen in den Augen, als ihre Lieblingspatientin abgeholt wurde. Sie hatten zwar kein Wort verstanden von dem, was Ilse Heinrich sagte, und eigentlich konnte sie sich noch immer nicht bewegen, aber was für eine Ausstrahlung! Es gibt nicht viele Pflegefälle mit so positiven Energien. Was hatte diese Frau in ihrem Leben richtig gemacht, wie viel Gutes hatte sie erfahren, dass sie so viel zurückgeben konnte, dass sich jeder froh und zuversichtlich fühlte in ihrer Gegenwart?

Hornstorf bei Wismar 1930. Ilse ist sechs Jahre alt, ihre Mutter liegt im Sterben. Der blutige Husten wird siegen, Ilse kann es in den Gesichtern der Erwachsenen lesen. Tuberkulose. Die Familie Zietz gehört zu den ärmsten im Dorf, und nun verliert der Mann auch noch seine Frau. Die Hornstorfer sehen es nicht ohne Mitleid, gemildert durch eine gehörige bäuerliche Grundhärte, die von Schicksalsgläubigkeit nicht zu unterscheiden ist. Niemand wundert sich, als sehr bald schon eine Neue an seiner Seite steht.

Jemand muss sich schließlich um die Kinder kümmern, zwei Brüder und ein Mädchen. Ilse sieht das nicht so: Wie kann der Vater nur diese Fremde einlassen, wie kann er die Tote so schnell ersetzen? Die Abneigung zwischen der Sechsjährigen und ihrer Stiefmutter ist aufrichtig und unkorrigierbar. Aber Stiefmütter sind stärker. Ilse versteht das nicht, es verletzt ihr Gerechtigkeitsempfinden: Schließlich war sie schon immer da, die Fremde musste sich in der Tür geirrt haben.

Andere Mädchen ihres Alters haben nicht viel mehr zu tun am Tag, als in die Schule zu gehen, sie dagegen muss nach der Schule auf dem Feld helfen. Der mecklenburgische Ackerboden klebt schwer an ihren Zensuren, und doch: Sie würde eine gute Säuglingsschwester werden, da ist sie ganz sicher. Und wenn nicht Säuglingsschwester, dann Schiffsschwester. Bloß weg von zuhause, endlich in die Stadt. Wenn man als Mädchen schon nicht zur See fahren darf. Zur See zu fahren, ist der Traum ihres großen Bruders.

Die Polizei weiß, wen sie wo suchen muss

Jungenträume erfüllen sich öfter als Mädchenträume. Der große Bruder darf eine Lehre machen und dann anmustern auf einem großen Schiff, für ihn reicht das Geld. Für Ilse nicht. Kaum fertig mit der 8-Klassen-Volksschule muss sie „zum Bauern“. Mit Namen wird sie weder den ersten noch seine Nachfolger nennen. „Der Bauer“: Sammelname für eine ihr zutiefst fremde und feindliche Existenzform. „Beim Bauern“ ist sie noch weniger ein Einzelwesen als in den Augen ihrer Stiefmutter, sie muss schwer arbeiten, die Lerchen singen über ihr und dem Feld. Das Wort „Feld“ wird in Ilse Heinrichs Hierarchie der schlimmen Wörter gleich hinterm „Bauer“ folgen. Manche Städter können sich nichts Wunderbareres vorstellen als wogende Weizenfelder im Sommer; Ilse Heinrich wird alles daran setzen, ihren Anblick zu vermeiden. Ein Feld ist etwas, das vielleicht einen Anfang hat, aber bestimmt kein Ende, dafür unendlich viele Reihen. Man läuft gebückt hindurch. Wozu auch den Horizont sehen, ihr gerade begonnenes Leben hat schließlich auch keinen.

Hört sie die Lerche hoch über sich wie Hohn? Grenzenlose Leichtigkeit liegt in diesem Ton, die ganze Weite der Welt. „Seht die Vögel unter dem Himmel an“, sprach Jesus, „sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ Leider gilt das nur Vögel. Obwohl, sie kennt eine Mutter in Wismar, die hat zehn Kinder. Ihre Tür steht immer offen, auch für Ilse. Dort ist sie gern.

In jungen Jahren
In jungen Jahren

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Und dann vermisst der erste Bauer zum ersten Mal seine Feldarbeiterin, wahrscheinlich mitten in der Ernte. Die Polizei findet sie schnell. Ein unguter Kreislauf beginnt: Ilse Heinrich wird ins Wismarer Gefängnis gebracht, sitzt dort, bis der Bauer sie wieder abholt, der Bauer bestraft sie, alles wird noch schlimmer. Bald hört Ilse wieder das Lied der Lerche und läuft weg. Die Polizei weiß längst, wen sie wo suchen muss. Meist ist sie bei der Zehn-Kinder-Familie mit der immer offenen Tür, etwas Heimat braucht jeder.

Dass Jungen weglaufen, kommt vor. Aber ein Mädchen? Mädchen gelten als von Natur aus gehorsam. Und nun ein Lerchen-Mädchen, eines mit völlig deplatziertem Freiheitsdrang. Das ist wider die weibliche Natur. Eines Tages im Sommer 1943 fährt die Kriminalpolizei mit der Eingefangenen nicht zum Wismarer Gefängnis. Sie sieht die Silhouette eines Schlosses, das Schloss von Güstrow. Seit dem 19. Jahrhundert hatte es eine Abteilung „für Arbeits- und Heimatlose“. In der Weimarer Republik hieß es „Landesfürsorge- und Arbeitshaus“ und wurde immer größer, unter den Nationalsozialisten erst recht. Wer in mecklenburgischer Küstennähe wie Ilse nicht in die Volksgemeinschaft passt, kommt in dieses Schloss.

Sie muss jetzt Uniform tragen, weißes Kopftuch und weiße Schürze über schwarzer Kluft. Das Laufen zählt zu den untergeordneten Fortbewegungsarten. Vor allem wird marschiert. Bis an ihr Lebensende wird Ilse Heinrich das Bild vor Augen haben, wie sie in Weißschwarz mit den Schicksalsgefährtinnen über die Schlossbrücke von Güstrow marschiert. Und wohin? „Zum Bauern“, meistens. Es sind große Güter mit ebensolchen Feldern und nie ohne Aufseher. Manche versuchen dennoch zu fliehen. Das Schreckenswort heißt „Kellerarrest“. Das Güstrower besitzt wie jedes richtige Schloss einen Kerker. Aber manchmal hat die Arbeitshäuslerin auch Glück. Dann sagt die Aufseherin: Du gehst heute zu Frau Lehmann! Bei Frau Lehmann und anderen Privatleuten gibt es für gute Arbeit oft auch gut zu essen.

Der schwarze Winkel

Im August 1944 ertönt ein Befehl, mit dem keine gerechnet hat: Sachen packen! Sie dürfen also nach Hause? Das Mädchen aus Hornstorf bei Wismar hat kein Zuhause. Seltsam nur, dass der Zug wie damals das Polizeiauto in die völlig falsche Richtung fährt. In Fürstenberg müssen sie aussteigen, der Rest ist Fußmarsch. Sie erblicken Baracken hinter Stacheldraht, passieren das große Tor. Wenig später sind Ilses Haare bis auf die Kopfhaut geschoren, sie trägt gestreifte Häftlingskleidung mit aufgenähtem schwarzen Winkel. Er bedeutet: asozial. Ilse Heinrich, 20 Jahre alt, ist im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück angekommen.

August 2016. Sie kann sich noch immer kaum rühren. Am meisten nimmt die 92-Jährige dem Schlaganfall den Zeitpunkt übel. Doch nicht mitten auf ihrer Kreuzfahrt! Immerhin hatte sie in Neapel am Ende ein Zimmer mit Blick auf den Hafen und die Bucht. Und irgendwo ganz hinten lag Capri. Nun also die Reha in Berlin. Die alte Frau merkt Orten sofort an, ob sie es gut mit ihr meinen. Diesem hier vertraut sie. Die Schwestern sprechen zwar nicht mehr so melodisch wie zuvor, dafür versteht sie jetzt, was sie sagen. Sie sagen: Frau Heinrich, wenn Sie richtig mitmachen, wird das wieder!

Und wie sie mitmacht. Überhaupt: Dass wildfremde Menschen ihr Gutes wollen, überrascht sie noch immer. Sie muss wieder schiffstüchtig werden. Nach sechs Wochen verlässt Ilse Heinrich die Reha, als wäre nie etwas gewesen. Kurz darauf steht sie wieder vor einer Schulklasse und spricht nach einem halben Leben in Berlin noch immer mit ihrem Hornstorfer Küstendialekt. Es klingt, als ob kein Sturm sie umwirft. Das täuscht.

Sie sagt den Schülern fast alles. Wie an jedem Morgen die Leichen-Karre kam, von der die Köpfe herunterhingen. Wie sie mitten in der Winternacht zum Appell antreten mussten, und der dauerte manchmal zwei Stunden. Schlimmer war nur, wenn der diensthabende Sadist sie bei 10 Grad minus mit Wasser übergoss und nach draußen schickte: „Kannst wieder kommen, wenn du gefroren bist!“

Nie wird Ilse Heinrich die Kartoffel vergessen. Es war eine verfaulte Kartoffel, sie lag in der Mülltonne, und Ilse entdeckte eine helle, fast noch kartoffelige Stelle an ihr. Da biss sie hinein. Die Strafe: acht Tage kein Abendbrot. Sie hatte immer Hunger, der Hunger war schon früher ihr größtes Problem. Und dann hatte sie keinen mehr.

Im Krankenrevier wird sie auf das nasse Stroh einer eben Gestorbenen gelegt. Sie hat Typhus. Irgendwann verlassen Häftlingskolonnen das Lager, die Front rückt näher. Das sind die Todesmärsche. Sie gehört zu den wenigen, die zurückbleiben, keinen Schritt kann sie mehr gehen. Und dann tritt eine Rot-Kreuz-Schwester in ihren Fieberträumen zu ihr: Das Lagertor stehe offen, sie müsse mit hinaus. Ilse schüttelt kaum wahrnehmbar den Kopf. Für sie gibt es keine offenen Tore mehr, doch die Fiebertraum-Schwester bleibt und will ihr helfen. Wahrscheinlich gibt die Todkranke nur nach, damit endlich wieder Ruhe ist. Auf dem Bauch kriecht sie durch das offene Lagertor ins Freie.

Die Schwester macht Quartier für sie in der SS-Villa nebenan, dort sind jetzt die Russen. Und da ist alles: Brot, Fleisch und Käse. Die ewig Hungrige sieht es fast mit Ekel. Und beginnt schließlich doch zu essen. Die Russen geben ab. Und vergewaltigen die noch immer sterbenskranke junge Frau.

Wenig später steht sie vor der Tür ihres Vaters, denn irgendwohin muss doch eine gehen, die aus dem KZ kommt. Die Stiefmutter öffnet, einen Ausdruck aufrichtiger Enttäuschung im Gesicht: „Willst du uns wieder zur Last fallen?“

Bei der Frau mit den zehn Kindern in Wismar gehen inzwischen die Russen aus und ein. Sie bringen immer etwas mit und wollen immer etwas haben. Sie kennt das Prinzip schon. Ihr Magen plädiert für Zustimmung. Die Ravensbrück-Überlebende bekommt ein Kind. Es gibt kein Bett für sie und das kleine Mädchen bei der Zehn-Kinder-Familie, da hat ohnehin nicht jeder ein Bett. Also schläft sie mit dem Neugeborenen auf dem Boden. Es bekommt Kartoffelbrei aus der Flasche, denn sie hat keine Milch. Sie nennt das Mädchen Monika.

Bis an ihr Lebensende wird Ilse Heinrich ihre beiden jüngeren Töchter und den Sohn fragen: Wisst ihr, welcher Tag heute ist? Und Sylvia und Christina und ihr Bruder Werner werden antworten: Ja, wissen wir. Heute ist Monis Geburtstag! Sie haben die große Schwester nie gekannt, und auch die Ravensbrück-Überlebende sah bald nur noch das leere Bettchen unter dem Dach ihres Vaters. Wir haben Monika weggegeben, sie hat es besser so!, sagte der Vater. Ilse Heinrich begriff nichts.

Sie arbeiten, das Kind kommt ins Heim!

1948. Als sie wieder Leben unter ihrem Herzen fühlt - wieder wird es ein Mädchen, wieder ist es ein Russen-Kind, sagt die Wismarer Polizei: Sie gehen arbeiten, das Kind kommt ins Heim! Sie protestiert, die Polizei gibt nach, schiebt Mutter und Kind ins Polizeiauto und hält: vor dem Güstrower Schloss. Sie schläft im selben Eckzimmer wie damals. Im ersten Jahr ist sie Küchenhilfe, alle drei, vier Stunden geht sie auf die Kinderstation und stillt ihre Tochter Sylvia. Später arbeitet sie in der Holzfabrik. Das frühere Arbeitshaus ist jetzt ein Ort für geschlechtskranke Frauen und ledige Mütter.

Und 1951 ist sie plötzlich weg. Die Reichsbahn verkauft Fahrkarten für eine Mark zu den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin. Berlin! Da gibt es bestimmt keine Bauern. Und keine Felder. Sie weiß längst, dass sie nur in Städten Luft bekommt, und Berlin soll noch größer sein als Wismar und Güstrow zusammen. Berlin erfüllt all ihre Erwartungen. Bald darauf lässt sie Sylvia aus dem Heim holen und erwartet ihr drittes Kind. Einen Mann hat sie auch. Endlich ankommen!

Doch es werden Ankünfte auf Zeit bleiben. Ilse Heinrich glaubt wie viele Frauen ihrer Generation, dass eine Frau nur mit Mann vollständig ist. Den Richtigen findet sie nie. Aber einmal doch, richtiger war keiner, leider hat er es nicht gemerkt, verließ sie für eine andere. Dafür trat sie ihm fast die Tür ein. Das Glück kommt erst nach den Männern.

Heimat: Das sind die Stadt und ihre Kinder. Später liegt sie auch in den Augen der Schüler, denen sie ihre Geschichte erzählt. Und dann hängt ihr ein anderes Nordlicht das Bundesverdienstkreuz um den Hals. Mit Joachim Gauck kann sie reden, der spricht wie sie. Natürlich will sie 100 werden und vor allem noch einmal auf der „Aida“ fahren, mit Heckkabine und ihrem Strudel unten und den Möwen obendrüber.

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