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© Joanna Kosowska

Nachruf auf Irene Stoehr: Eine Gleich- und Weichenstellerin

Was war das für ein Feminismus? Ihm fehlte das Abstrakte, das Unnachsichtige, das Prinzipielle.

Von Kerstin Decker

Allein die Traueranzeige: ein Gedicht, ihr Name, die Lebensdaten, die Trauernden und darunter ein Dackel, gezeichnet. So geht das nicht, sagten befreundete Akademikerinnen, da muss doch stehen: Feministin! Sozialwissenschaftlerin! Historikerin! Publizistin! Und vor allem: Der Dackel muss weg! Irene hatte keinen Hund.

Es gab für diese Traueranzeige nur eine Entschuldigung: Sie hätte Irene Stoehr gefallen. Hat nicht jeder das Recht auf eine allerletzte Bekanntmachung, die zu ihm passt?

Wahrscheinlich sah sie schon früher nur mit Mitleid auf Grabsteine, auf denen zu lesen war: „Hier ruht Oberpostdirektor...“ Einfach nur ihr Name, das würde reichen. Dabei war es nicht einmal ihr eigener. Sie behielt mit Selbstverständlichkeit den Namen des Mannes, den sie noch sehr jung heiratete und von dem sie sich - noch immer sehr jung - wieder trennte. Ihr Geburtsname war Beer.

Das Magazin „Unterschiede“, das sie Anfang der 1990er Jahre mit Eva-Maria Epple herausgab, trug den Untertitel: „Zeitschrift für Lehrerinnen und Gelehrte, Mütter und Töchter, Gleich- und Weichenstellerinnen, Freundinnen, Tanten und Gouvernanten aller Art“. Was war das für ein Feminismus? Gibt es das denn: einen ironischen Feminismus?

Ihm fehlte schon in diesem Untertitel das, wofür man ihn zu kennen meint: das Abstrakte, das Unnachsichtige, das Prinzipielle. Menschen, die ihr sehr nahe standen, legte Irene Stoehr das wichtigste Buch ihrer Kindertage ans Herz, „Schnipp Fidelius Adelzahn“ von Svend Fleuron: Szenen aus dem abenteuerlichen Leben eines Dackels.

Der Ranger hatte sie gewarnt: Nie den Weg verlassen!

Es ist nicht ganz ungewöhnlich, dass, wer einem Menschen am nächsten steht, selber keiner ist. Aber dass er bloßer Traumgefährte bleibt, wie für Irene Stoehr der Dackel, das ist selten. Wahrscheinlich hatte sie Zweifel, ob ihre Lebensform, viel unterwegs, Debatten, Menschen, dann wieder Tage allein am Schreibtisch und in Archiven einem anderen zumutbar sei. Bestimmt keinem Hund.

Dabei hätten sich die Brüder und Schwestern des Schnipp Fidelius Adelzahn eine Gefährtin wie sie nur wünschen können, jemanden, der stundenlang viele Kilometer weit mit ihnen wandert. Ein abenteuerliches Herz. Und vielleicht hätte sie sich mit einem Hund an ihrer Seite in den Wäldern Alaskas auch nicht so hoffnungslos verlaufen. Der Ranger hatte sie noch gewarnt: Es gibt einen einzigen Weg und den dürfe sie nie verlassen, unter keinen Umständen! Aber das hatte sie noch nie geschafft.

In ihren Augen war nur der ein Wanderer, der nicht auf vorgebahnten, ausgetretenen Pfaden bleibt. Wie in der Wissenschaft. Wie im Feminismus. Keiner kannte wie sie alle Wege und Schleichwege rund um die Krumme Lanke. Aber irgendwann an jenem späten Nachmittag in den Wäldern Alaskas musste sie einsehen, dass sie es nicht mehr zurückschaffen würde, ja dass sie nicht einmal wusste, in welcher Richtung sie dieses „Zurück“ überhaupt vermuten sollte. Hier war mit demonstrativer Gelassenheit nichts zu gewinnen: Liebe Wölfe und Bären, bitte fresst keine Akademikerin aus Berlin! Sie hatte noch so viel zu arbeiten. Sie musste die Geschichte der deutschen Frauenbewegung neu schreiben. Denn das, was man gewöhnlich zu kennen meint, ist nur ein kleiner Teil davon, der radikale. Ein Teil, der sich für das Ganze hält. Und nicht einmal der interessanteste, fand Irene Stoehr.

Mütterlichkeit als unverzichtbarer Wert

Sie bezog in Nässe und Kälte den wolf- und bärensicheren Ast eines Baumes und wusste genau, was sie nicht durfte: einschlafen! Das Alleinsein war sie gewohnt, auch in aller Öffentlichkeit, etwa auf Podien der Frauenbewegung. Sie ließ sich nicht davon abbringen, die Mütterlichkeit als unverzichtbaren Wert zu betrachten, als ob sie nicht wüsste, dass die Inferiorität der Frau immer mit ihrer Mutterrolle begründet wurde, exemplarisch in „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ des deutschen Psychiaters Paul Julius Möbius. Die Frau könne nur in Nestlogiken denken, das liege an ihrem Mutterinstinkt, der wiederum dem Überleben der Gattung diene. An diesem Abend ging es jedoch nicht um das Überleben der Gattung, sondern um ihr eigenes. Und so hörten die Bewohner des Regenwaldes von Alaska eine ganze Nacht lang ohne Unterlass die melodischen Laute eines seltsamen Tieres, das sich hier noch nie zuvor zu Wort gemeldet hatte. Irene Stoehr sang der örtlichen Fauna Kinderlieder vor, Küchenlieder, Kirchenlieder, Choräle, Volkslieder und Schubert-Lieder natürlich. Andere hätten vermutlich nach wenigen Strophen aufhören müssen: Entweder fehlen die Worte oder die Noten, meistens beides. Irene Stoehr aber hatte sich ein Leben ohne Lieder noch nie vorstellen können. Noch kurz vor ihrem Tod war sie mit ihren Nichten zu einer Videokonferenz verabredet: Sie sangen Kanon, fast eine Stunde lang.

Wer singt, schläft nicht. Als der Morgen kam, saß Irene Stoehr noch immer auf ihrem Ast. Sie hörte das Brummen eines Hubschraubers. Nicht einmal hier ist man vor Fluglärm sicher! Das war ihr erster unwilliger Gedanke, der zweite: Die suchen mich!

Dass Leben Gefahr bedeutet, wusste sie früh. Als sie vier Jahre alt war, flohen die Frauen ihrer Familie aus Brieg in Niederschlesien, Mutter, Großmutter, Schwester und sie. Das Erleben höchster Bedrohung, die Wehrlosigkeit der Frauen haben sich ihr eingebrannt. Und dann wurde aus dem Flüchtlingskind Irene Beer ein Berliner Kind, mit der Großmutter und dem Tanten-Dackel Fine als Bürgen für die trotz aller Mängel grundsätzliche Vertrauenswürdigkeit der Welt. Ihre Mutter war es nicht. Dieser durchaus selbstbewussten, sportlichen Frau fehlte etwas, was die Hauptvertreterinnen des Feminismus später so sehr unter Generalverdacht stellen würden: Mütterlichkeit. Sie sahen es wohl ungefähr so wie der Autor der Kampfschrift „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“, nur unter umgekehrtem Vorzeichen. Aber noch immer als Gefangene derselben Logik?

Alle Zeichen auf Aufbruch!

Das Berliner Nachkriegskind Irene war dennoch in Sicherheit. Denn eins hatte sie so unbeschränkt und bedingungslos, wie jede Mütterlichkeit sein sollte: Großmütterlichkeit. (Groß)Mütterlichkeit setzt den Kontrapunkt zu allen späteren menschlichen Ökonomien, umso wichtiger ist sie.

Und das Kind gab sie zurück, begleitete die tief religiöse Niederschlesierin allsonntäglich zum katholischen Gottesdienst, obwohl sie tausend Möglichkeiten gewusst hätte, den Vormittag unterhaltsamer zu verbringen. Die Trennung war schwer. Es hatte immer Spannungen gegeben zwischen Mutter und Großmutter; eines Tages war es so weit: Die Bürgin von Irenes Kindheit zog aus, sie ging nach Hamburg zu Verwandten.

Der Vater war Journalist. Nach dem Krieg zurückgekehrt, brachte er Menschen ins Haus, bei deren bloßem Eintreten die Welt weiter zu werden schien, unter ihnen auch Frauen. Von wegen Nest-Logikerinnen! Alle Zeichen standen auf Aufbruch. Das unanständigste Wort, das eine Frau bislang sagen konnte, hatte drei Buchstaben: Ich! Plötzlich galt das nicht mehr, nicht für sie. Irene Stoehr studierte Soziologie und Politische Wissenschaften. Ob ihr klar war, dass sie erst zur zweiten oder dritten Generation von Frauen gehörte, denen sich die Türen der Universitäten öffneten, als ob es nichts Selbstverständlicheres gäbe? Das Leben zeigte nicht die Absicht, ihr Hindernisse in den Weg zu legen.

Sie war noch keine 30 Jahre alt, als sie zur Professorin an die Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Hildesheim berufen wurde. Unbefristet. Promotion oder Habilitation nicht nötig, es war eine Fachhochschule. Es ist unmöglich, in diesen Fächern die Frauen zu übersehen. Und im ganzen Land begannen immer mehr Frauen über Frauen nachzudenken.

1976 organisierte Irene Stoehr mit elf weiteren Dozentinnen die erste Sommeruniversität für Frauen an der FU Berlin: alle großen und kleinen gesellschaftlichen Themen, einmal ganz anders betrachtet, nämlich mit den Augen der Frauen. 5000 kamen.

Wie hört man mit dem Rauchen auf? Silvester 1977 war nach Mitternacht und dem Vorsatz eines zigarettenfreien neuen Jahres noch eine halbe Schachtel übrig. Schade drum!, sagte sich die leidenschaftliche Raucherin, heftete die Halbvolle an eine Silvesterrakete und zündete. Hoch, weg und vorbei. Die Zigaretten waren keineswegs das Einzige, was sie gerade in die Luft geschossen hatte. Die Professur war gekündigt, eingetauscht gegen eine befristete Assistentenstelle für „Frauenarbeit und Frauenbewegung“ am Otto-Suhr-Institut in Berlin. Ja, sie war eine begabte Aufhörerin. Ihrem Ehemann hatte sie schon längst die Freiheit zurückgegeben. Nicht, weil er eine Zumutung war. Aber vielleicht war sie eine? Er konnte bestimmt noch eine Bessere finden. Nest-Logik ist das nicht.

Vielleicht hat die wissenschaftliche Untersuchung zur Klassifizierung von Rauchertypen, an der sie aus aufrichtigem Interesse teilnahm, ihre Persönlichkeit am genauesten erfasst. Die Untersuchung kam zu dem Schluss, dass sie zu der nicht eben häufigen Spezies der „Nichtraucher mit Rauchermentalität“ gehöre.

Solche Kategorien denken zu können, hielt Irene Stoehr für unabdingbar. Wie Mütterlichkeit, auch unabhängig von der Mutterschaft, soziale Mütterlichkeit also. Radikalfeministinnen ernannten sie für derlei Überlegungen zur Vertreterin des NS-Mutterkultes. Dabei war sie keineswegs die Erste, die so dachte. Irene Stoehr hatte eine Gewährsfrau: Die frühverwaiste Kaufmannstochter Helene Lange, Jahrgang 1848, hat den Mädchen in Deutschland den Weg zum Abitur gebahnt. Nicht indem sie eine Petition nach der anderen beim Preußischen Abgeordnetenhaus einreichte - was sie auch tat -, sondern indem sie 1896 sechs Berliner Schülerinnen wie aus dem Nichts ans Königliche Luisengymnasium zur Reifeprüfung schickte. Mädchen hatten zwar kein Recht auf höhere Bildung, aber durfte man ihnen verwehren, ihre Bildung prüfen zu lassen? Die Absolventinnen von Helene Langes privaten „Realkursen für Mädchen“ bestanden. Veränderung von unten! Wer sich auf die normative Kraft des Faktischen berufen will, schafft diese Fakten am besten selber.  

Nie hörte Irene Stoehr eine innere Stimme, die ihr sagte: Du solltest jetzt ein Kind bekommen! Umso mehr nahm sie Anteil am Leben derer, die sie sehr wohl gehört oder sich in ein traditionelles Frauenleben gefügt hatten. Die erste größere feministische Zeitschrift der alten Bundesrepublik war nicht „Emma“, sondern die Berliner „Courage“. Ihre Nullnummer erschien im Juni 1976, „Emma“ folgte im Januar 1977. Beider Auftreten erinnerte an die Spaltung der früheren Frauenbewegung in einen radikalen Flügel, der vor allem „Wir fordern das Wahlrecht!“ rief, und den Gemäßigten der Politik der kleinen großen Schritte um Helene Lange. Zwei Jahre lang war Irene Stoehr „Courage“-Redakteurin, sie mochte die Offenheit, den experimentellen Charakter des Magazins.

Man kann auch zur Hinterbliebenen einer Zeitschrift werden. Als 1984 die letzte Nummer der „Courage“ erschien, spürten die Redakteurinnen der letzten Stunde eine große Leere.

Eine Konferenz voller Missverständisse

Der Mauerfall kam gerade zur rechten Zeit. Im Februar 1990 fand der Rat der Stadt Friedrichroda in Thüringen eine Anfrage aus West-Berlin vor, ob sich bei ihnen nicht eine Tagung ausrichten ließe, eine, nun ja, feministische Tagung, und zwar zum 100. Jahrestag der Gründung des „Allgemeinen Deutschen Lehrerinnen-Vereins“ daselbst in Friedrichroda. Mitgründerin: Helene Lange. Dass Frauen überhaupt Lehrerinnen werden durften, war hart erkämpft. Die Tagung wurde die erste Begegnung der Friedrichrodaer und Friedrichrodaerinnen mit der im Osten beargwöhnten Spezies der Feministinnen. Es wurde eine Konferenz voller - immer wieder weggesungener - Missverständisse. Irene Stoehr hat in der ersten Nummer der „Courage“- Nachfolge-Zeitschrift „Unterschiede“ - der mit dem sehr langen Untertitel - launig darüber berichtet.

„Zeitschrift für Lehrerinnen und Gelehrte, Mütter und Töchter...“? Wir haben die Großmütter vergessen!, fiel Irene Stoehr mehr als 20 Jahre später auf. Auf dem Weg zu ihrer kleinen Lichterfelder Gartenhaus-Wohnung voller Reminizenzen an den Dackel, den sie nie hatte, steht ein Schild: „Misstraue dem Ort, an dem kein Unkraut wächst!“ Es ist ein Slogan für Menschen, die sich außerstande sehen, einem Slogan zu folgen.  

Viele Menschen schreiben eine Doktorarbeit, um etwas zu werden, etwas mehr vielleicht als ohne Titel. Sie promovierte mit fast 60, sie nannte sich „Wahlhistorikerin“. Nicht Irene Stoehr hatte die Geschichte gewählt, aber die Geschichte sie; es war eine Art von höherer Nötigung. Ihr Thema hieß „Weibliche Kultur und Partizipation. Wandlungsprozesse und Konflikte der bürgerlichen Frauenbewegung im 20. Jahrhundert“. Eine Vorarbeit gewissermaßen zur großen Geschichte des Feminismus in Deutschland. Sie konnte sie nicht mehr vollenden.

Eine Freundin, die fast zur selben Zeit krank wurde wie sie, sagte: „Ich kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand!“ Irene Stoehr hatte keine Ahnung, wohin sie fallen würde. Aber sie erfuhr noch einmal, was sie längst schon wusste: Wie viele Menschen doch zu ihr gehörten. Es war Gewebekrebs, zu spät erkannt. Noch im Herbst schwamm sie in der Krummen Lanke und machte eine Acht-Kilometer-Wanderung, diesmal in der Märkischen Schweiz statt in den Wäldern Alaskas.

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