zum Hauptinhalt
Kai Wiedenhöfer

© Daniel Rosenthal

Nachruf auf Kai Wiedenhöfer: Geschichte bei der Arbeit

Er hatte den Überblick und immer einen Plan. Wer beides hat, kann sich in Gegenden begeben, wo regelmäßig jeder Überblick und jeder Plan verlorengeht

Von Kerstin Decker

9000 km waren das Ziel, 9000 km auf dem Rennrad bis zum Jahresende. Weit über 8800 hatte er schon geschafft, nun war es Weihnachten, es blieb nicht mehr viel Zeit für die Fehlenden. Andere hätten vielleicht gesagt: Dann mache ich den Rest eben nächstes Jahr! Aber so konnte er nicht denken. Menschen ohne Disziplin waren ihm unheimlich, eine ebenso erstaunliche wie fremde Lebensform.

Am zweiten Weihnachtsfeiertag früh brach er auf von seinem Heimatort Kirchheim unter Teck zu einer Tour über die Schwäbische Alb. Vielleicht nahm er die Strecke über Buttenhausen. Buttenhausen war einer der wichtigsten Orte im Leben des Fotografen Kai Wiedenhöfer, von dem Kollegen sagen, er gehörte zu der Handvoll seines Berufs auf der Welt, die wirklich zählen. Dokumentarfotografie. Anderes hatte ihn nie interessiert.

In Buttenhausen gibt es einen großen jüdischen Friedhof. Der Friedhof ist das Einzige, was von den vielen jüdischen Bewohnern des Ortes geblieben ist. Er fotografierte die Grabsteine und gab etwas später ein Riesenpaket bei der „Folkwang Universität der Künste“ in Essen ab. Das war so schwer und sperrig, dass er es lieber selber vorbeibrachte als es der Post zuzumuten. Die Fotografien lagen in einer komplizierten selbstgebauten Holzkonstruktion, es handelte sich um eine sehr frei angewandte Interpetation des Begriffs Bewerbungsmappe. Die Folkwang Universität war so leichtfertig gewesen, Kai Wiedenhöfer beim ersten Mal abzulehnen. Jetzt würde sie sich wohl zweimal überlegen, ihm seine Bewerbungsunterlagen zurückzuschicken. Der junge Schwabe behielt Recht. Die Grabsteine öffneten ihm die Tür seines Lebens.

Ein jüdischer Soldat und ein deutscher Fotograf sprechen über die Schwäbische Alb

An einer Straßensperre am Stadtrand von Nablus im Norden des Westjordanlands stand Jahre später ein junger israelischer Soldat, dem die Fahne an Kai Wiedenhöfers Motorrad auffiel. Keiner konnte sie deuten, der jüdische Soldat Ofer Marx schon. Baden-Württemberg! Ob der Motorradfahrer den Ort Buttenhausen kenne, fragte er. Seine Familie komme von dort. Generationen seiner Vorfahren lägen auf seinem Friedhof. Wiedenhöfer sah den Soldaten an, aus dem unter normalen Umständen wohl ein Buttenhausener geworden wäre. Plötzlich bekamen die alten Totensteine des Nachbarortes, was er nie erwartet hätte: das Gesicht eines Menschen von heute. Ein israelischer Soldat und ein junger deutscher Fotograf fanden sich an einem Checkpoint im besetzten Palästinensergebiet tief verwickelt in ein Gespräch über die Schwäbische Alb. Was für eine Zeitschleife!

Gewöhnlich sah Wiedenhöfer den Begegnungen mit israelischen Grenzsoldaten mit einer gewissen Skepsis entgegen, vor allem seit ein Scharfschütze ihm ins Bein geschossen hatte. Es missfiel ihm wohl, dass Wiedenhöfer eine palästinensische Beerdigung fotografiert hatte. Und war es etwa ratsam gewesen, sich bei der Besatzung eines israelischen Panzers zu beschweren, der immer wieder über die Köpfe von 2000 wartenden Palästinensern hinwegfeuerte?

Die Leute standen da über Stunden, nur weil sie über die Straße wollten. Hier war ihr Land, drüben auch, aber auf der schmalen Straße dazwischen fuhren israelische Siedler. Die Palästinenser mussten ewig warten, um den kurzen Augenblick der Öffnung nicht zu verpassen. So war das, warum diskutieren? Der Panzer wurde immer größer und Kai Wiedenhöfer immer kleiner, zumindest kam es ihm so vor. Die 2000 Palästinenser klatschten, aber das machte es nicht besser, im Gegenteil.

Kein Kriegsfotograf

Ja, wenn er der Mann für solche Auftritte gewesen wäre! Oder wenigstes Kriegsfotograf. Aber das war er nicht, auch wenn es ihn immer wieder in die Krisenorte dieser Welt zog. Friedensfotograf wollte er werden. Sein seelisch-fotografisches Urerlebnis war die sich öffnende Berliner Mauer.

Anwesenheit bei Vorlesungen und Seminaren macht immer einen guten Eindruck, erst recht, wenn man ganz neu ist auf dem Campus. Sein erstes Semester hatte soeben begonnen, dank der Bewerbungsmappe. Am 9. November 1989 ging in Berlin die Mauer auf. Am 10. November besuchte der Student der Essener Folkwang Universität der Künste noch ein Symposium der Fotografie in Dortmund. Da sprach die Geschichte zu ihm: Was, du bist noch hier, und ich bin in Berlin? Ein gestandener Fotograf auf dem Symposium hatte das so ähnlich formuliert.

Kai Wiedenhöfer setzte sich mitten in der Nacht ins Auto und fuhr los. Morgens um halb fünf stand er auf dem leeren Potsdamer Platz. Als es etwas heller wurde, begann er zu fotografieren. Die Menschen waren außer sich, gewöhnlich bedeutet das Aggression, aber jetzt war es großartig. Allein die Gesichter der Grenzsoldaten zu sehen, die plötzlich keine Grenze mehr zu bewachen hatten. Kai Wiedenhöfer gehörte zu den wenigen Unbeteiligten, die den Herbst 1989 wirklich verstanden. Wahrscheinlich gibt es keine menschliche Kollektivintelligenz, erhitzte Kollektive neigen fast immer zur Entgleisung, nur diesmal war es anders. Hunderttausende auf den Straßen, erhitzt, doch kein Schlag, kein Stein. Nichts geschah, was es der Staatsmacht ermöglicht hätte zu sagen: Wir haben nur zurückgeschossen! Das war das Wunder. Und Kai Wiedenhöfer war sein Zeuge, mit leichter Verspätung.

Damals dachte er in größter Klarheit: Nun werden die Mauern überall fallen. Er durfte es nur nicht verpassen.

Wenn du dich verstecken musst, ziehen wir am besten zusammen

Er musste nach Israel und Palästina, gar keine Frage. Die erste Intifada der Palästinenser hatte fast genau zwei Jahre zuvor begonnen, im Dezember 1987. Auch Palästina und Israel würden eine neue Zukunft haben. Aber wie sollte er dort erscheinen, doch nicht als Paparazzi, der das Objektiv wie ein Gewehr auf die Leute richtet, einmal kurz draufhält und schon wieder weg ist. Er musste mit ihnen reden. Er musste also Arabisch lernen. Zu Hause würde das nie etwas, nicht schnell genug. Er fuhr nach Damaskus.

Sein Sprachlehrer hieß Sami. Sagte er. Irgendwann überfielen Sami Zweifel. Hatte der fleißige Schüler nicht ein Recht zu wissen, dass sein Lehrer gleich von mehreren syrischen Geheimdiensten gesucht wurde? Er würde sich dann wohl einen anderen nehmen, aber es musste sein. Die Wirkung seines Geständnisses erstaunte den Lehrer sehr. Der Arabisch-Schüler wollte sich nicht verabschieden, im Gegenteil, er hatte eine Idee: Wenn du dich verstecken musst, ziehen wir am besten zusammen, und ich werde Hauptmieter, dann weiß keiner, wo du bist! Die syrischen Geheimdienste haben Sami dann doch noch gefunden, aber Lehrer und Schüler verloren sich nie mehr aus den Augen.

Kai Wiedenhöfer gehörte zu den Menschen, die keinen mehr vergessen, dem sie wirklich begegnet sind, also mit Herz und Hirn. Und er half immer, beim Umzug sowieso. Der Betreffende musste dann allerdings damit rechnen, auf seinem Umzug nichts mehr zu sagen zu haben. Kai Wiedenhöfer teilte die Leute auf und die Arbeit ein, Widerspruch zwecklos. Am Ende wunderten sich die Helfer oft, wie schnell und wie gut sie das geschafft hatten. Er hatte den Überblick und immer einen Plan. Nur wer über beides verfügt, kann sich wohl in Gegenden und Situationen begeben, wo regelmäßig jeder Überblick, jeder Plan verlorengeht.

Auf welcher Seite war denn die Geschichte?

Die Mauern fallen? Der Oslo-Friedensprozess in Palästina Anfang der 1990er schien ihm Recht zu geben. Im Gaza-Streifen und im Westjordanland nannten sie den Fotografen bald Habib al-Schaab, Freund der Leute. Eben weil er mit ihnen sprach, weil er wiederkam. Nicht, weil er auf ihrer Seite war. Er wollte verstehen, auf welcher Seite die Geschichte war. Er wollte ihr bei der Arbeit zusehen.

Yitzhak Rabin hatte 1985 als israelischer Verteidigungsminister die „Politik der eisernen Faust“ gegenüber den Palästinensern eingeführt, inzwischen stand er als Ministerpräsident wie kein zweiter für Frieden und Kompromiss. Ein Mann vom November ‘89, gewissermaßen, wusste Wiedenhöfer.

Und dann sah er, womit er nie gerechnet hätte: Die Mauern fielen nicht, im Gegenteil, neue wurden gebaut, höher noch als die von Berlin. Je mehr der Frieden im Nahen Osten Konturen gewann, desto lauter meldeten sich auch seine Feinde zu Wort - auf beiden Seiten. Rabin wurde ermordet. Sollte das die gleiche Geschichte getan haben, die in Berlin die Mauer fallen ließ?

Der erste große Bildband, den Kai Wiedenhöfer 2004 veröffentlichte, trug den Titel „Perfect Peace: The Palestinians from Intifada to Intifada“. Die zweite Intifada hatte im Jahr 2000 begonnen. Jetzt wollte er der Geschichte erst recht beim Arbeiten zusehen. So groß und so genau als möglich. Er legte die Kleinbildkamera aus der Hand, er machte keine Schwarz-Weiß-Fotografien mehr. Er nahm einen wahrhaft monströsen Apparat, von dessen Art es nicht allzu viele auf der Welt gibt. Er brauchte das Monstrum, auf dessen Filmrollen nur acht Aufnahmen passten, um Mauern zu fotografieren. Und zwar möglichst so, dass man sie sieht wie zum ersten Mal.

Allein in der Nähe des palästinensischen Dorfes Qalandia nahe Jerusalem waren es 703 Kilometer Mauer. Er hatte da eine Idee. Wie wäre es, seine Großaufnahmen an den Resten der Berliner Mauer zu zeigen? „Wall on Wall“ könnte die Ausstellung heißen. Immerhin hatte er schon zwei Mal den World Press Photo Award gewonnen, ausweisen musste er sich längst nicht mehr. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg würde entscheiden, denn hier stand die East Side Gallery. Kai Wiedenhöfer hörte, worauf er schon gefasst war. Dass der Nahost-Konflikt ein zu ernstes und vielschichtiges Thema sei, als dass man es einer Agitprop-Ausstellung überlassen dürfe. Abgelehnt. Immerhin schoss ihm in Kreuzberg keiner ins Bein, weil er seine Bilder nicht wollte.

Wiedenhöfer hielt Mauern noch immer für anachronistische, ja antizivilisatorische Bauwerke. Dass die Stadtmauern höhere Kultur erst möglich gemacht hatten, beeindruckte ihn nicht. Er wollte ohnehin nichts beweisen, er wollte nur zeigen. Er war kein Parteigänger, kein Aktivist, im Gegenteil. Er war Zeuge. Bloß versteht man solche Zeugenschaft nicht mehr, wo Mauern gebaut werden. Hinter Mauern gibt es nur noch Freund und Feind. 2010 versuchte die „Jewish Defence League“ eine Ausstellung seiner Fotografien des zerstörten Gazastreifens im Pariser Musée d’ Art Moderne zu stürmen. Sie hielt das Gezeigte für antisemitische Propaganda.

Wer macht den besten Kakao mit der größten Sahnehaube oben drauf?

Menschen wie Kai Wiedenhöfer haben wohl kein Zuhause wie andere, sie haben eher Zwischenlandeplätze. Zuerst war Hamburg für ihn dieser Ort, denn dort saßen die großen Magazine, Stern und Geo etwa, für die er arbeitete. Doch die Stadt blieb ihm immer etwas fremd. Kurz nach 2000 kam er nach Berlin, und es war wie eine Heimkehr an den Ort der Anfänge. Die Auswahl seiner Lieblingscafés war denkbar einfach: Wer macht den besten Kakao mit der größten Sahnehaube oben drauf?

Er hatte Freunde überall auf der Welt und in Berlin sowieso. Manchmal dachte er, dass er wohl auch gern eine Frau und Kinder hätte, etwas mit Dauer. Aber bei diesem Leben? Und hätte er dann wirklich noch morgens um fünf Uhr auf sein Rennrad steigen können und um zehn Uhr pünktlich und geduscht wie jeder andere an seinem Arbeitsplatz sein, also im Atelier, nur dass er inzwischen schon in Zehdenick gewesen war, 125 km hin und zurück.

Manchmal sah er auf den Berliner Alltag wie auf eine Puppenstube. Wie unwirklich war das alles. Und um das zu wissen, hätte er nicht einmal mit sieben syrischen Brüdern durch ihr Land im Krieg fahren müssen.

2013 wurde seine Panorama-Ausstellung „Wall on Wall“ doch noch an der East Side Gallery gezeigt, sechs Monate lang: Nun waren auch die Sperranlagen von Belfast, Bagdad und die zwischen den USA und Mexiko zu sehen. „Wall on Wall“ wurde ein großer Erfolg.

Der 7. Oktober 2023 mit seinem neuen Ausbruch der Gewalt in Nahost hat Kai Wiedenhöfer tief erschüttert, aber nicht überrascht. Bald darauf verschickte er sein „Book of Destruction“ an mehrere europäische Außenminister. Es war ein Toten- und Versehrtenbuch, Aufnahmen aus dem Gaza-Streifen von 2009, im Jahr nach dessen Zerstörung. So werde es dort gleich wieder aussehen, schrieb er dazu. Zwei dürre Empfangsbestätigungen erreichten ihn.

Er hatte vorausgesagt, dass die Hamas die Wahlen 2006 in den Palästinensergebieten gewinnen werde. Keine Redaktion wollte ihm das damals glauben. Die Zwei-Staaten-Lösung war für ihn längst keine realistische Option mehr. Die ersten Verabredungen für eine neue Reise nach Gaza nach dem Ende dieses neuen Krieges waren schon getroffen, obwohl Kai Wiedenhöfer längst in ganz anderen Projekten steckte. Er fotografierte die zerstörte Natur auf allen Kontinenten. Wenn man ihr eine Chance gibt, verfügt die Natur im Zweifel über größere Selbstheilungskräfte, als Menschen sie haben. Und ist schön noch in ihrer Versehrtheit. Darum auch immer wieder die großen Radtouren und Wanderungen: Heilung in einer heillosen Welt.

26. Dezember 2023. Einer der Handvoll Dokumentar-Fotografen auf der Welt, die wirklich zählen, fuhr durch die Schwäbische Alb. Als man ihn und das Fahrrad am Straßenrand fand, musste er dort schon fast eine Stunde gelegen haben. Es war ein Herzinfarkt. Er hatte sein Herz schon zuvor gespürt, nicht stark, aber irritierend, er würde das abklären lassen. Aber nun fehlte noch etwas Strecke. Man holte den Körper ins Leben zurück, für sein Hirn war es zu spät. Der Kilometerstand zeigte 8894.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false