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Berlin: Neu verbucht

Welche antiquarischen Schätze der Staatsbibliothek sind seit Kriegsende verschollen? Revisoren katalogisieren jetzt die Bestände. Ende der Aktion: 2008

Es steht schlecht um Franz von Kleists „Hohe Aussichten der Liebe“. 1789 ist das Werk erschienen, die Königliche Bibliothek zu Berlin hatte einst ein Exemplar davon erworben und ihm die Signatur „Ym5411“ gegeben. Jetzt suchen Björn Vollmar und Peter Fedchenheuer in den Magazinen der Staatsbibliothek nach dem Buch. „Ym5411?“, fragt Fedchenheuer. „Habe ich nicht“, antwortet Vollmar. Fedchenheuer trägt „nein“ hinter der Signatur ein. Das Buch ist in den schier endlosen Regalen des Magazins, das übergangsweise am Westhafen untergebracht ist, nicht zu finden.

Die beiden Männer gehören zu einem der Suchtrupps, die seit über einem Jahr die Altbestände der Staatsbibliothek durchforsten. Immer zu zweit nehmen sie sich die Regale vor, in denen alle Bücher stehen, die 1945 und früher erschienen sind, und kontrollieren, welche Ausgaben da sind. „Revision“ nennt sich das nüchtern. Doch es ist ein Versuch, die Wunden zu schließen, die der Zweite Weltkrieg in den Beständen hinterlassen hat. Wie keine andere Bibliothek der Welt weiß die Staatsbibliothek auch mehr als 60 Jahre nach Kriegsende noch nicht, welche Bücher sich tatsächlich in ihren Magazinen befinden.

Der Grund dafür liegt in ihrer besonderen Geschichte. Die Bestände der einstigen Königlichen Bibliothek, geschätzte drei Millionen Bücher und Handschriften, waren zwischen 1941 und 1944 in Sicherheit gebracht worden, um sie vor der Zerstörung zu schützen. Sie waren über große Teile des ehemaligen Deutschen Reichs verteilt. Die Teilung Deutschlands und Berlins verhinderte, dass die Sammlung wieder vereinigt wurde. Bis heute gibt es keine Aufstellung darüber, wie viele Bücher unwiederbringlich zerstört sind. Im Katalog der Staatsbibliothek findet sich deshalb immer wieder nur der Hinweis: „Kriegsverlust möglich / Bestand erfragen“.

Auch bei der Originalausgabe von Franz von Kleists „Hohe Aussichten der Liebe“ ist das so. Jetzt, nachdem Björn Vollmar und Peter Fedchenheuer festgestellt haben, dass das Buch im Magazin fehlt, ist der Fall keinesfalls erledigt. „Es könnte sein, dass irgendeine Abteilung der Bibliothek das Buch übernommen hat und es deshalb nicht im Magazin, sondern in einem Sonderlesesaal steht“, erklärt Andrea Jacobs, die Leiterin der Revision.

Die Suche geht also weiter. Und sie macht deutlich, wie groß das Durcheinander in den Altbeständen der Staatsbibliothek ist. Mehr als 60 Kataloge hat das Haus, aber erst beim Aufbau des Online-Katalogs, in dem seit 2001 sämtliche Bestände der Bibliothek gelistet sind, wurde die Dimension der ungeklärten Bücherschicksale deutlich. „Rund 1,8 Millionen Mal fand sich der Hinweis im Katalog“, sagt Jacobi. So oft wusste die Bibliothek nicht: Gibt es das betreffende Buch noch? Und wenn ja, wo steht es?

Ein unbefriedigender Zustand für die Nutzer. Das hat auch Barbara Schneider-Kempf so gesehen, als sie vor fünf Jahren die Generaldirektion übernahm. „Der Katalog ist das Herzstück einer Bibliothek“, begründet sie, warum sie das Projekt einer Revision nicht länger aufschieben wollte. „Ohne einen intakten Katalog ist eine Bibliothek nur eine ungeordnete Sammlung.“ Jahrelang hatten sich die Bibliothekare innerhalb des Hauses immer wieder mit den Plänen für eine Revision befasst, schließlich sind die beiden Häuser der Staatsbibliothek seit 1992 wieder rein organisatorisch unter einem Dach vereinigt. „Meine Vorgänger hatten andere Prioritäten“, sagt Schneider-Kempf und erklärt so, warum die Revision immer wieder verschoben wurde.

Im Dezember 2005 ging es endlich los. Andrea Jacobi war ebenso wie der Generaldirektorin klar: Das auf Jahre angelegte Projekt ist mit dem eigenen Personal nicht zu schaffen. ABM-Kräfte sollen das machen, entschieden die beiden. Damit trafen sie auf Widerstand im eigenen Haus: ABM-Kräfte auf unsere Altbestände loslassen? Nicht auszudenken, was da alles schiefgehen kann!

Die Befürchtungen haben sich mittlerweile als völlig unbegründet erwiesen. Und so suchen nun zum Beispiel der gelernte Installateur Vollmar und der einstige Lkw-Schlosser Fedchenheuer nach verschollenen Büchern.

Nach einem Jahr ist ihre Zeit jedoch um. Als ABM-Kräfte dürfen sie nicht länger arbeiten. Sie zu übernehmen, kann sich die Staatsbibliothek nicht leisten. Am 1. März kommen deshalb neue Langzeitarbeitslose, die erst geschult und dann eingearbeitet werden müssen, ehe sie als Teams, mit Laptops ausgestattet, durch das Magazin laufen. Zehn Zweierteams sollen es diesmal sein: Sie werden unterstützt durch junge Leute, die ihr Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, und inzwischen pensionierte Bibliothekare wie Johannes Ziegler. Er geht mit einer Liste durch die Regalschluchten und kontrolliert, ob in der Bestandsprüfung durch die ABM-Kräfte alles richtig gelaufen ist. „Die Fehlerquote ist sehr gering“, sagt er zufrieden.

Ziegler weiß wie kein Zweiter, wie nervtötend sich die unklare Situation wegen der Bestände der Staatsbibliothek auswirkt. Bis April 2006 hat er in der Bibliographischen Auskunft gestanden, hat geduldig Fragen beantwortet, in jedem Einzelfall recherchiert, ob das gesuchte Buch noch da ist. „Wenn es ein verzweifelter Doktorand war, bin ich auch schon mal selber ins Magazin gestiegen“, erzählt Ziegler.

Das alles soll Ende 2008 der Vergangenheit angehören. Bis dahin müsste die Revision abgeschlossen sein. Mehr als 63 Jahre nach Kriegsende wird die Bibliothek dann einen Überblick haben, welche Löcher der Zweite Weltkrieg tatsächlich in ihre Bestände gerissen hat.

Im Fall von Franz von Kleists „Hohe Aussichten der Liebe“ findet die Suche ein gutes Ende. „Hier ist noch eine Ausgabe“, sagt Björn Vollmar plötzlich. Die hat Peter Fedchenheuer nicht in seiner Liste und tippt sie deshalb gleich in den Computer ein. Andrea Jacobi erklärt den Fall: „Nach dem Krieg haben die Bibliothekare in Ost- und West-Berlin versucht, die Lücken durch den Kauf antiquarischer Bücher aufzufüllen.“ Glückte das, vergaben sie eine leicht geänderte Signatur – wie im Fall der „Hohen Aussichten der Liebe.“ Das Werk ist nun endlich bestellbar. Es trägt die Signatur „Ym5411a“.

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