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Berlin: Oranienplatz: Eine Familie schreibt Geschichte

Hans-Ulrich Fluß liebt die Vergangengheit. Sein Wohnzimmer hat er sich beispielsweise so eingerichtet, dass es wie damals bei seinem Großvater aussieht.

Hans-Ulrich Fluß liebt die Vergangengheit. Sein Wohnzimmer hat er sich beispielsweise so eingerichtet, dass es wie damals bei seinem Großvater aussieht. Das Ölbild mit dem Seekreuzer "Emden" über der Anrichte hat er nach den Beschreibungen seines Kindermädchens anfertigen lassen. Darunter posieren kleine Porzellansoldaten im Dress der deutschen Kolonialarmee. Fast könnte man meinen, der Mann sei ein Nostalgiker. Ein Blick in seine Fotosammlung offenbart allerdings ein etwas anderes Geschichtsverständnis.

Seit dreißig Jahren fotografiert Fluß den Oranienplatz von seinem Wohnzimmerfenster aus. Hunderte Aufnahmen hat der 52-Jährige schon. Fast jeden Spatenstich und jeden Massenauflauf hat er festgehalten. Sein häufigstes Motiv sind Polizeiautos. "Das ist eben Kreuzberg. Die Polizeidichte hier ist enorm", sagt Fluß und lächelt verschmitzt.

Hausbesetzungen, Demonstrationen, Krawalle, Feuerwehr- und Notarzteinsätze, so liest sich die Flußsche Bildergeschichte des Oranienplatzes. Besonders stolz ist der Hobbyfotograf auf ein Bild aus dem Jahr 1993. "Da habe ich die neuen Panzerwagen und Wasserwerfer und die ersten Räumschaufeln gegen Straßenblockaden noch vor den Reportern fotografiert." Natürlich auf dem Oranienplatz. 1997 kam zum ersten Mal die thüringische Polizei zur 1.-Mai-Demonstration. Im Jahr darauf die aus Wiesbaden. "Das sieht man doch gleich an den Autos", sagt Fluß. Die seien noch so neu und ohne Kratzer und Beulen.

Warum nur macht er sich solche Mühe? "Das ist eben Familientradition", sagt Fluß als sei es das Normalste von der Welt. "Das hat schon mein Großvater gemacht. Auch von diesem Fenster aus." Großvater Eugen Fluß hatte 1890 die bekannte Großkonditorei "Kuchen-Kaiser" gekauft, an die heute noch ein gleichnamiges Restaurant erinnert. Aus demselben Jahr stammt auch das erste Oranienplatzfoto, das Fluß in den Alben seines Großvaters gefunden hat. Wenn man die vergilbte Aufnahme ganz genau betrachtet, erkennt man die Holzbrücke über den Luisenstädtischen Kanal, der damals den Platz teilte. 1906 wurde sie durch eine prunkvolle Sandsteinbrücke ersetzt, deren Kandelaber mit Frauenkörpern verziert waren. Finanziert hatte die Brücke - Konditoreibesitzer Eugen Fluß. Er wünschte sich für sein Geschäft einen würdigen Vorplatz. Kein Wunder also, dass er den Platz und vor allem die Oranienbrücke so gern fotografierte.

Hans-Ulrich Fluß sieht sich mit seinen Polizeistudien und Chaosbildern durchaus in den Fußstapfen seines Großvaters. Wie zum Beweis deutet er auf ein Foto aus dem Jahre 1996. Es zeigt einen brennenden Flaschencontainer vor dem Plus-Markt am Erkelenzdamm. Daneben ein Löschfahrzeug der Feuerwehr.

Das Bild hat eine frappierende Ähnlichkeit mit einer Aufnahme von Eugen Fluß aus den 20er Jahren, auf der Löscharbeiten eines Wohnungsbrandes an genau derselben Stelle zu sehen sind. Auch das Nachbarhaus, das man sieht, wenn man bei Fluß aus dem Wohnzimmerfenster blickt, taucht in der 100-jährigen Fotochronik von Enkel und Großvater am linken Bildrand regelmäßig auf - wie eine Kulisse, in der ein Theaterstück mit dem Titel "Oranienplatz" spielt.

Die Flußsche Fotostory ist eine Tragikomödie. Sie erzählt von dem ersten Lieferwagen Berlins, der der Konditorei Kuchen-Kaiser gehörte und gleich beim ersten Ankurbeln explodierte. Von Bäumen, die - kaum gepflanzt - schon wieder gestohlen wurden und von einem Brunnen, der nicht funktioniert, weil jemand mit dem Vorschlaghammer auf ihn eingeschlagen hat. Auch das ist eben Kreuzberg, sagt Fluß. Es klingt als spreche er über eine alte Freundin, die man liebevoll verspotten darf.

Fluß ist ein gewissenhafter Chronist. Die Kanalarbeiten vor dem Haus hat er fotografiert, die Schneekatastrophe von 1979 und die Fete de la Musique. Daneben hat er immer penibel das Datum eingetragen. Natürlich, gesteht Fluss, ist seine Dokumentation der Geschichte des Oranienplatzes nicht vollständig. Es fehlen so wichtige Ereignisse wie eine Straßenschlacht, die im März 1920 während des Kapp-Putsches stattfand. Zwei Mieter seines Großvaters wurden dabei angeschossen.

Und dann war da noch die Übergabe des Witting-Brunnens 1989, bei dem die Ehrengäste versehentlich nass gespritzt wurden. An dem Tag war Fluß im Urlaub. "Und außerdem", sagt er, "geschehen die spannendsten Dinge auf dem Oranienplatz sowieso nachts. Dann, wenn man nicht fotografieren kann."

Friederike Böge

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