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© David Heerde

Pankow: Jüdisches Waisenhaus bleibt Schauplatz der Erinnerung

Im restaurierten Jüdischen Waisenhaus, das einst die Nazis schlossen und nutzten, treffen sich dieser Tage Überlebende aus aller Welt.

Das strahlend verputzte Gebäude, Berliner Straße 120/21 in Pankow, ist eine vierstöckige Burg, ein hochragender Blickfang mit Erkertürmen, imposanter Fassade, kolossalem Mansardengeschoss. Neben der alten Post vis-à-vis: ein „Deutscher Imbiss“. Am Gebäude, in dem eine Bibliothek, eine Suchthilfe, die Ersatzschule „Pankower Früchtchen“ und ein Veranstaltungsort, der Betsaal, zu finden sind, verweist eine Porzellantafel auf die topografische Historie. Durch Korridore läuft man unter massiven Gewölben. Wenige alte Fenster sind bunt; die Pfeilerreliefs mit Motiven aus „Der gestiefelte Kater“, den „Bremer Stadtmusikanten“, dem „Rattenfänger von Hameln“, „Hans im Glück“ und „Hänsel und Gretel“ sind irgendwann abgeschlagen worden.

Zum Betsaal im II. Stock gelangt man vorbei am Abenteuerspielplatz; über der Tür im Hof das Bienenkorb-Relief, Symbol des Fleißes, der Gemeinnützigkeit. Die bunte Kassettendecke des Saales mit Stern-, Blüten- und Früchte-Ornamenten ist bis auf ein kaputt belassenes Quadrat prächtig restauriert. An der Stirnseite, wo sich Nischen für den Toraschrein und rahmende Pilaster befanden: drei unverputzte Ziegelfelder. Aus Rundbogenfenstern ist die ehemalige Zigarettenfabrik Garbáty zu sehen, deren Besitzer den Wiederaufbau finanzierten, als das Haus abbrannte. Auf dem Giebelfeld steht seit 2002 wieder originalgetreu: „II. Waisenhaus der jüdischen Gemeinde in Berlin erbaut im Jahre 1912-13“. Die Versalien waren entfernt und die Fenster im I. OG vergittert worden, bevor 1943 das Reichssicherheitshauptamt-Referat IV F5, Zentrale Sichtvermerkstelle für Ausländerüberwachung, einzog. Heute ist das ganze Haus ein Sichtvermerk der Berliner Geschichte.

Im Bibliotheksflur wird auf Stellwänden dokumentiert, was bisher geschah: 1882 kauft Justizrat Makower das Grundstück Nr. 121 zur Errichtung einer Erziehungsanstalt für Jungen, die zaristischen Pogromen entkamen. Als Waisenhaus für 80, schließlich 150 Zöglinge, wird die Institution, bald unter Einbeziehung des Nachbarterrains, von der Jüdischen Gemeinde übernommen. Turnhalle und Kegelbahn entstehen. Zwei Jahre nach dem Brand 1911: Einweihung des durch Alexander Beer entworfenen großzügigen Neubaus. Disziplin hat unter Direktor Grunwald, einem Ex-Offizier, Priorität; dessen Nachfolger betonen auch die Geborgenheit. 1926 gehört zum Haus eine Volkssschule, die ab 1933 „Nichtarier“ von außen aufnimmt. 1938 verwüsten Hitlerjungen die einnehmbare Burg. Die Waisen werden verlegt. Bis 1941 wird die Immobilie als Jüdisches Altersheim genutzt, das Grundstück geht 1942 an das Deutsche Reich. 44 Kinder und Erzieher werden deportiert, ermordet. Architekt Beer stirbt in Theresienstadt. Ab Mai 1945 nutzen das Bezirksamt Pankow, der Deutsche Sportausschuss, die Vertretung Polens, die Botschaft Kubas den Bau. Ab 1991 steht er leer.

Die Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung für Senioren erwirbt das Haus 1999 von der Jewish Claims Conference. Regelmäßig werden aus aller Welt Überlebende des Heims eingeladen, 2001 noch 30; die Kontakte wirken aufwühlend und vertrauenstiftend. Viele Besucher sind bald 90. „Wir holen sie, so lange es noch geht“, sagt der Stiftungs-Vorsitzende Peter-Alexis Albrecht, Mitherausgeber des Bandes „Verstörte Kindheiten“, in dem auch letzte Grußwechsel der Kinder mit deportierten Eltern abgedruckt sind – und Berichte von 14 Ehemaligen. Diese weilen momentan für ein siebtes Treffen in der Stadt: Am Freitag hat der durch seine Nobelpreis-Mitarbeit berühmte Londoner Immunologe Leslie Baruch Brent seine Memoiren „Ein Sonntagskind?“ im Betsaal auf Deutsch vorgestellt.

Keiner der Gruppe wollte auf Dauer zurückkehren. Viele haben damals, als Halbwaisen ins Heim gekommen, alle Verwandten verloren. Das begründet ihre Distanz gegenüber dem Land der Mörder, zugleich ihre Bindung an die Kultur der Eltern. Ernst Herbert Farr-Freytag (Argentinien) berichtet vom Abschied von der geliebten Oma – und wie er den SS-Mann, durch den sie ins Lager kam, unter Kriegsgefangenen entdeckte. Jochay Goren (Israel) erinnerte an schmucke Jungvolk-Uniformen „arischer“ Kinder, und dass man neidisch war, weil man nicht dazugehörte. Ernst Lowenberg (England) erzählte, dass er sich trotz Verfolgung geborgen fühlte. Leslie Baruch Brent gibt zu, dass er gegen die Stadt, von der seine Familie in den Tod geschickt wurde, „eine gewisse Abscheu gehegt“ habe. Bert Lewyn (USA) erinnert sich an den HJ-Überfall auf das Waisenhaus: „Wie die meisten kleinen Jungen träumte ich manchmal davon, ein Held zu sein, die Welt vor dem Bösen zu retten. Aber es war eine entschieden andere Sache, als ich merkte, dass ich um mein Leben würde kämpfen müssen. Es war erschreckend. Ich konnte nicht glauben, dass mich Menschen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, umbringen wollten.“ Das Erdreich vor der blitzweiß renovierten Fassade wird derzeit aufgegraben; der Tatort Waisenhaus bleibt Schauplatz der Erinnerung.

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