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Berlin: Pflegeheim als rechtsfreier Raum

Ein Gerichtsurteil zeigt: Menschenrechte gelten wenig in der Altenpflege Von Michael de Ridder

Das Ende März durch das Amtsgericht Tiergarten im Falle des Heimbewohners Wolfgang K. ergangene Urteil gegen die für seine Pflege Verantwortlichen ist ein Schlag ins Gesicht der schwächsten und verletzlichsten Angehörigen unserer Gesellschaft.

Der 68-jährige Wolfgang K. war am 13. August 2003 im Zustand schwerer Auszehrung mit einem Geschwür an der linken Hand sowie einem faustgroßen durchgebrochenen Hodenabszess in das Vivantes Klinikum Am Urban eingeliefert worden. Dieser Abszess – so das übereinstimmende Urteil mehrerer Fachärzte der Klinik – musste seit Wochen bestanden haben, war jedoch weder von den Pflegekräften des Heimes noch von der Hausärztin bemerkt worden. Nach einem erbarmungswürdigen Siechtum in einem der aufwendigsten und teuersten Gesundheitssysteme der Welt starb der Patient wenige Tage später infolge des Abszesses an einer nicht mehr beherrschbaren Blutvergiftung.

Dennoch fällte das Gericht ein (Fehl-)Urteil, das allein die Entlastung der Angeklagten zuließ, weil in seinen Augen betreuerisches, pflegerisches oder ärztliches Verschulden nicht zweifelsfrei nachzuweisen war. Es bleibt dennoch unstreitig, dass der Abszess bei gewissenhafter Pflege und Behandlung hätte erkannt und behandelt werden müssen und der Tod des Mannes keineswegs als schicksalhaft anzusehen ist.

Das Urteil offenbart einmal mehr die Misere pflegebedürftiger alter Menschen. Es signalisiert erneut, dass die Institution Pflegeheim weit entfernt ist von einem geschützten Raum, den eine zivile Gesellschaft für ihre verletzlichsten Angehörigen bereitzuhalten vorgibt. Vielmehr scheinen Pflegeheime mehr und mehr zu rechtsfreien Räumen mit dem Charakter von Gruselkabinetten zu verkommen – selbst unter den Augen von Richtern und Staatsanwälten. Dabei geht es nicht allein um ausreichende Kalorienzufuhr oder darum, dass die pflegerischen Leitlinien zur Dekubitusprophylaxe (Vorbeugung gegen Wundliegen – d. Red.) eingehalten werden. Es geht, man mag es kaum glauben, um Menschenrechte! Diese beginnen bei Heimordnungen, die Heimbewohner etwa durch Beschneidung ihrer Bewegungsfreiheit und Sozialkontakte in ihren Grundrechten massiv einschränken; sie betreffen ihre häufig praktizierte Zwangsruhigstellung durch Bettgurte oder Psychopharmaka („bei Bedarf“) sowie das Zwangswindeln, obwohl der Gang zur Toilette mit Hilfe möglich wäre; schließlich sind Heimverträge nicht unüblich, die die Zustimmung des Pflegebedürftigen bzw. seiner Angehörigen zur Zwangsernährung mittels einer Sonde für den Fall vorsehen, dass die Nahrungsaufnahme auf natürlichem Wege erschwert oder unmöglich geworden ist. Letzteres ist im übrigen ein Vorgehen, auf das der Medizinische Dienst der Krankenkassen nach Aussagen von Pflegeheimbeschäftigten geradezu drängt.

Die Politik ist aufgefordert, der verbreiteten Missachtung der Würde und der Rechte von Heimbewohnern ein Ende zu setzen: Unabhängige, auch von Bürgern getragene Heimbesuchskommissionen mit Sanktionsbefugnissen wären ein erster Schritt. Die ideelle und finanzielle Aufwertung des Berufs des Altenpflegers ist seit langem überfällig.

Die Gesundheitspolitik muss darüber hinaus den Mut aufbringen, die Mittel für die gesundheitliche Versorgung neu zu gewichten: mehr für die unterversorgten Chronischkranken und Pflegebedürftigen, weniger für Akutmedizin, von der immer weniger Bürger profitieren. Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen legte zudem schon 2002 dar, dass etwa 20 Prozent der Gesundheitsausgaben für unnütze Behandlungen ausgegeben werden: Zigtausenden Arbeitlosen könnte mit den für die personalintensive Versorgung Pflegebedürftiger frei werdenden Mitteln eine sinnvolle Lebensperspektive eröffnet werden. Im Zeitalter des Jugendwahns jedoch steht es schlecht um die Interessen pflegebedürftige Heimbewohner, die – ganz anders als die über lautstarke Lobbys verfügenden Behinderten – den Augen der Öffentlichkeit entzogen, stumm und wehrlos ihr Anliegen nicht einmal selbst zu Gehör bringen können. Gar nicht erst zu reden von den gewaltigen Fehlbeträgen in der Pflegeversicherung, die ihre Lage künftig weiter verschärfen werden.

Der Autor ist Leiter der Notaufnahme des Klinikums Am Urban

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