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Ilse Eliza Zellermayer

© Uwe Steinert

Nachruf auf Ilse Eliza Zellermayer: Pingpong mit Menuhin

Man erscheint auf der Welt, und alles ist gerichtet, finanziell, kulturell. Der Nachruf auf das Leben in einer Parallelwelt

Vier Jahre vor ihrer Geburt, der Erste Weltkrieg ging ins zweite Jahr: Jedem erwachsenen Berliner standen täglich 270 Gramm Brot, 35 Gramm Fleisch (mit Knochen) und ein Viertel Ei zu. Und die Ober im neu eröffneten „Hotel am Steinplatz“ servierten Ente à la Presse, Riesenportionen Kaviar, Langusten, Champagner.

1918 war der Krieg verloren, in den Berliner Straßen kämpften Arbeiter und Freikorps. Der Hotelbetrieb lief ruhig weiter. Damen bestellten Tee, Herren stolzierten im Frack durch die Empfangshalle, Pagen huschten durch die Gänge.

Im Sommer 1920 wurde Ilse Zellermayer in diese Parallelwelt hineingeboren. Alles in dem darauf folgenden Leben war erlesen, die Spielkameraden, die Schullaufbahn, der Beruf, die Ehemänner, die Geliebten. Was sie mit fast 90 sorgfältig in dem Buch „Prinzessinnensuite – mein Jahrhundert im Hotel“ notierte.

Man erscheint auf der Welt, und alles ist gerichtet, finanziell, kulturell. Eine Mutter, die auf großen Bällen zur schönsten Dame des Abends gekürt wurde. Ein Vater, der sagte: „Das Teuerste ist das Billigste“, und seinem ersten Sohn kurz nach der Geburt zwei Flaschen Champagner über das Köpfchen goss. Eine weitläufige Privatwohnung im Hotel, ein Spielzimmer im Wintergarten. Gouvernanten aus aller Welt, damit die drei Kinder, Heinz, Achim, Ilse, sich treffend auf Englisch, Französisch und Italienisch auszudrücken lernten. Eine Privatschule, ein renommiertes Gymnasium, das Mädchenpensionat Château Mont-Choisi in Lausanne.

Die Gräfin mit dem Plüschbär

Die Begegnung mit sehr vornehmen, sehr verschrobenen Gästen: Die Gräfin mit ihrem Plüschbären, den sie Chouchou nannte, der neben ihr im Restaurant ein komplettes Menü vorgesetzt bekam, und mit dem sie während des Essens Konversation betrieb. Plaudereien mit Schauspielern und Komponisten. Theo Lingen, der von einem Pagen zurückgehalten wurde: „Pardon, sehr verehrter Staatsschauspieler Lingen, ich sehe ein Fusselchen auf ihrem Arm, darf ich es entfernen und auch ihren Schuhen noch etwas mehr Glanz geben?“ Das Wunderkind Yehudi Menuhin, das mit seinem Vater und dem Violinprofessor im Hotel abgestiegen war und in den wenigen freien Stunden mit Ilse im Garten Pingpong spielte.

Ihr Wunsch, selbst die Geige zu erlernen. „Ist es dir ernst damit?“, wollte der Vater wissen. „Absolut“, antwortete Ilse. Woraufhin der Vater den Chauffeur rief, um sich zum Instrumentenhandel fahren zu lassen. Derselbe Chauffeur brachte das Mädchen täglich zur Schule, und er kutschierte an jedem 24. Dezember ab drei am Nachmittag Vater und Tochter im Mercedes durch die Stadt zu 20 Kreuzungen, um dort den Polizisten, die den Verkehr regelten, jeweils eine Kiste Zigarren und eine Flasche Cognac zu überreichen.

Bis alles anders wurde. Fast alles. Im Oktober 1933 wurde der Vater von der Gestapo vorgeladen, seine Mutter war Jüdin, er sollte seine Direktorenposten abgeben. Kurz nach der Unterredung erlitt er einen Gehirnschlag und starb. Und Ilse, da der Chauffeur nun anderweitig eingesetzt wurde, fuhr mit 13 Jahren zum ersten Mal mit der U-Bahn zur Schule. Ihre Mutter, die zuvor eher durch Eleganz als beruflichen Ehrgeiz aufgefallen war, musste jetzt die Aufgaben ihres Mannes übernehmen. Sie setzte für die ererbten Mietshäuser einen Verwalter ein und arbeitete sich in das Hotelgewerbe ein. Das Haus lief gut.

Erstaunlich fidel

1940 wurde das Hotel von der Kriegsmarine beschlagnahmt, ihre Privaträume aber durften die Zellermayers weiterhin bewohnen. 1942 verliebte sich Ilse in einen griechischen Holzkaufmann. 1943 fuhr die Braut in einer weißen Kutsche mit Schimmeln vor die Kirche. Die Hochzeitsreise ging ins tschechische Marienbad. Im Anschluss trat ihr Mann eine Stelle im Holzhandel in Danzig an. „Wir zogen deshalb in das luxuriöse Golfhotel in Zoppot.“

1944 brachte Ilse einen Sohn zur Welt, doch er starb kurz nach der Geburt. „Als man mir mitteilte, er sei gestorben, erlitt ich einen Schock, den ich bis heute nicht verwunden habe.“

Gemessen daran setzt sie ihren Bericht erstaunlich fidel fort und zählt stolz alle folgenden Exklusivitäten auf. 1945 siedelte das Paar nach Rottach am Tegernsee um. Ilses Mann freundete sich mit einem amerikanischen Captain an, der ihn mit Zigaretten versorgte. „Für eine einzige Stange Zigaretten“, notiert sie, „erstand ich den Mercedes von Winifred Wagner, der ihr von Hitler geschenkt worden war.“ Von Rottach aus fuhr sie täglich zum Gesangsunterricht nach München. Sie wollte jetzt Opernsängerin werden.

1946 kehrte Ilse zurück nach Berlin und trennte sich von ihrem Mann. Das Hotel befand sich nach den Bombardierungen in desaströsem Zustand. Ihr Bruder Heinz war fest entschlossen, es wieder flott zu machen. Doch brauchte er Geld. „Dafür bot sich nur ein florierendes Restaurant an.“ Die meisten Lebensmittel wurden auf dem Schwarzmarkt besorgt, im Innenhof der Ruine graste eine Ziege. Auf dem Hoteldach gediehen Tomaten, im Keller Champignons. Erste solvente Gäste kamen.

Nach und nach wurde das Hotel wieder aufgebaut. Schauspieler, Sänger, Modeleute, Intellektuelle buchten Zimmer. „Das Hotel am Steinplatz war eines der wenigen Häuser in Berlin, die an die Lebensart aus der Zeit der Weimarer Republik anknüpfen konnten.“

Dann kam der Blockade-Winter 1948. Die Berliner ernährten sich von dem, was die Alliierten ihnen zukommen ließen. Die Hotelküche aber war auf die Zuwendungen nicht angewiesen und bereitete ein exquisites Dinner zum Jahreswechsel vor. Doch kein Gast ließ sich blicken. Bis ein schwarzer Cadillac vorfuhr, dem ein blendend aussehendem Texaner entstieg. Er wünschte zu speisen, der Koch legte los. Damit der Amerikaner sich nicht allzu einsam fühlte im ansonsten leeren Restaurantsaal, setzte sich Ilse in einem schicken Kleid an seinen Tisch und aß mit ihm. Es gab Kaviar, Hummer Thermidor und Poularde Souvaroff. Dann wurde sie seine Geliebte.

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1955 „ergab sich ein intensiver Flirt“ mit einem „besonders hochbegabten jungen Musiker“. Ilse wurde schwanger, heiratete den Pianisten, „wohl wissend, dass es keine Bindung für immer sein konnte“. Zwei Jahre nach der Geburt der Tochter trennte sie sich wieder.

Dann: „Ein Organist von Weltruf“, Jean Guillou, „betrat die Bühne meines Lebens.“ Er schrieb ihr Sätze wie: „Je te donne mon art et mon amour.“ – „Ich gebe dir meine Kunst und meine Liebe.“ Doch da er unentwegt reiste, sahen sie sich selten. Und trennten sich nach vier Jahren, obgleich die Liebe nicht erloschen war.

Unterdessen hatte Ilse weiterhin Gesangsunterricht genommen, geriet jedoch an einen Stümper, der ihr zwei Jahre lang eine falsche Technik beibrachte, die ihre Stimme ruinierte. „Ich habe nie mehr gesungen.“

Auch an dieser Stelle hält sich der Verdruss in Grenzen. „Der entscheidende Abschnitt meines Lebens begann erst jetzt: als Agentin, als Managerin, als Impresaria.“ In Mailand traf sie Sänger, darunter den jungen, noch kaum bekannten Luciano Pavarotti. „Sie wussten, dass ich eine Deutsche war, und überfielen mich mit ihren dringenden Bitten, für sie Verträge in Deutschland auszuhandeln.“ Pavarotti betreute sie drei Jahrzehnte.

1976 entschloss sich die Familie, das Hotel zu verkaufen, und Ilse zog in eine Villa in Groß Glienicke mit Steinway-Flügel und Blick auf den See. Mit fast 80 schrieb sie ein erstes Erinnerungsbuch, „Drei Tenöre und ein Sopran“, zehn Jahre später das zweite, „Prinzessinnensuite“. Darin heißt es: „Es ist das Schicksal, das unabhängig von unserem Streben wirkt.“ Allerdings, könnte man hinzufügen, ist es nie von Nachteil, wenn dieses Schicksal seinen erlesenen Geschmack beweist und einen mit der allerbesten Herkunft beschenkt. Am 21. August starb Ilse Eliza Zellermayer im Alter von 100 Jahren.

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