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Befreit. Schnell werden politische Forderungen erhoben.

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Berlin: Plötzlich Rädelsführer

Er ist jung, 21 Jahre alt, da wird ihm eine Fahne in die Hand gedrückt. Und dann wird auf Hardy Firl geschossen. Ein Zeitzeugenbericht.

Der Menschenauflauf wird immer größer, die Rufe kommen immer näher. Hardy Firl, 21-jähriger Kraftfahrer bei der Mitropa, wird von dem Ereignis magisch angezogen. In der Frankfurter Allee, wo heute das Ringcenter steht, eilt er dem Protestzug entgegen. Die Leute rufen im Chor: „Weg mit der Volkspolizei!“, „Freie Wahlen!“, „Der Spitzbart muss weg!“ Das findet er auch und ruft kräftig mit. Am Fenster eines SED-Büros stehen die Genossen hinter den Gardinen.

„Komm, du bist hier der Jüngste!“ sagt einer, „fass mal an!“ Er drückt Hardy die Stange in die Hand, an der ein Transparent befestigt ist. Hardy geht nun in der ersten Reihe. Auf dem Transparent steht „Wir fordern freie Wahlen!“. Hardy, der aus einer alten Hugenottenfamilie stammt, ist stolz. An der Ecke Fruchtstraße steht ein Funkwagen der Volkspolizei. Ein Polizist ruft ins Mikrofon, die Leute sollen ruhig und besonnen sein und nach Hause gehen. Aber die wollen nicht. Stattdessen nehmen die Ersten in dem Zug, auch Hardy, den Polizisten das Mikrofon ab und wiederholen ihre Forderungen – nun noch lauter. Alle sollen sie hören. „Wir hatten Achterreihen, viele schlossen sich uns an, viele standen am Fenster. Es war toll, doch das reinste Tohuwabohu. Wir hatten keine Führung. Am Ostbahnhof ging es richtig zur Sache“.

Hardy Firl erinnert sich. Er blinzelt in die Juni-Sonne, fühlt sich gesund und zufrieden. Aber den 82-Jährigen rührt diese Zeitreise rückwärts noch immer zu Tränen. Denn jetzt beginnt das Drama. „Drei Jahre haben sie mir gestohlen und dabei ihr wahres Gesicht gezeigt. Ich lernte, was das ist: Todesangst“.

Die Polizei kommt mit Hunden, kesselt sie ein, fährt mit Mannschaftswagen vor und bringt sie nach Friedrichsfelde-Ost zum stillgelegten „Magerviehhof aus Kaisers Zeiten“. Kahle Wände, Stroh auf dem Fußboden, Hinstellen, Hände an die Wand. 70 Männer und Frauen. Nicht umdrehen. Hardy tut es doch und sieht, wie Maschinengewehre in Stellung gebracht werden. Er zittert vor Angst. „Die werden uns in den Rücken schießen“, flüstert er zu seinem Nebenmann. Der sagt: „Junge, das werden sie nicht wagen“. Aber sie schießen über die Köpfe. Scheinhinrichtung. Psychoterror. Und alles für „Wir wollen freie Menschen sein“.

Hardy Firl sagt heute, dass er weder einen Stein angefasst noch Scheiben eingeschlagen oder einen Polizisten berührt habe. Er wird in Handschellen in mehrere Reviere gefahren und schließlich „ganz nach oben“ gebracht, ins Innenministerium der DDR in die Glinkastraße. Im fünften Stock sitzt ein Offizier mit goldenen Tressen, vor sich ein vergrößertes Foto. Der Kopf des jungen Mannes, der ein Transparent trägt, ist mit einem weißen Kreis markiert. „Sind Sie das?“ „Ja“. „Sie waren bei der CIA, bei den Falken und auch bei der KGU, also Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit in West-Berlin?“ „Weder noch. Nie gehört.“ „Sie sind doch eingeschleust worden?“ „Nein.“ Der Offizier öffnet einen Schrank, nimmt sich einen Gummiknüppel, dreht sich um und schlägt zu, „nicht auf den Kopf, aber an den Hals“. Dann sagt er: „Unterschreiben Sie? Wir haben noch ganz andere Methoden.“ Hardy unterschreibt. Die Hand zittert. Dann wird er ins alte Polizeipräsidium gebracht, dahin, wo heute das Alexa steht.

Am 30. Juni beginnt in der Littenstraße der Schauprozess. Die DDR-Führer möchten ihre Theorie vom „faschistischen, vom Westen gelenkten Putsch“ juristisch absegnen lassen. Rädelsführerschaft, Aufruhr, Agent der CIA werfen sie Hardy Firl vor, der sagt: „Die Wahrheit ist, dass ich nicht bei der CIA war.“ „Aber Sie haben doch unterschrieben?“ „Ja, unter Zwang, weil ich geschlagen wurde.“ Der Richter namens Richter springt auf: „Unser Staat schlägt keine wehrlosen Menschen.“ Der Angeklagte sagt, er habe nichts Unrechtes getan. Er bekommt drei Jahre Zuchthaus, trägt in Rummelsburg die Häftlingskleidung mit den grünen Streifen, dem Merkmal der „Politischen“, bekommt Holzpantinen, Blechschüssel und Holzlöffel, wird kahl geschoren und hört zum Trost als Begrüßung eines Bewohners der Vier-Mann-Zelle: „Drei Jahre? Das sitzt du doch auf einer Backe ab.“

Er hat als „Politischer“ drei Jahre Arbeitsverbot, der Psycho-Krieg geht weiter. Kriminelle, Wirtschaftsverbrecher, Kinderschänder, alle dürfen arbeiten, nur die mit dem grünen Streifen nicht. Mal hat er eine Idee: Weg hier, in den Westen! Er meldet sich krank, wird ins Regierungskrankenhaus in die Scharnhorststraße gefahren und möchte abhauen, die Grenze ist so nah. „Keine Chance“, sagt er heute. Der Arzt diagnostiziert „Simulation“. Alle drei Monate darf er für 20 Minuten Besuch empfangen, ein Maschendrahtzaun trennt Mutter und Sohn – der Vater kommt nicht. Als guter Genosse kann er seinem Sohn nicht verzeihen.

Bei der Entlassung bittet Firl um die Anklageschrift. Sie wird ihm verweigert. Er fährt zu einer Senatsdienststelle und wundert sich: „Die hatten alles über mich da, auch die Kopie der Erklärung, dass ich nicht über die Zeit im Knast reden dürfe.“ Seit 1989 tut er das doch. Damals arbeitete er im Fuhrpark vom Centrum-Warenhaus, und sein Chef, ein „Hundertprozentiger“, sagte nur: „Die haben uns aber betrogen.“ Er meinte sich, nicht Menschen wie Hardy Firl. Der sagt heute: „Wenn die Panzer nicht gekommen wären, hätten wir längst die Einheit – seit Juni 1953.“

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