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Berlin: POTSDAMER PLATZ Das belebte Niemandsland Wie die halbierte Stadt zusammenwuchs

1 Die schönste MaueröffnungsGeschichte erzählt Richard von Weizsäcker: Ganz ohne Tross, fast privat, schlenderte er kurz nach dem 9. November 1989 zum Potsdamer Platz.

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Die schönste MaueröffnungsGeschichte erzählt Richard von Weizsäcker: Ganz ohne Tross, fast privat, schlenderte er kurz nach dem 9. November 1989 zum Potsdamer Platz. Der war 28 Jahre lang hermetisch vom Rest der Ost- wie Westwelt abgeriegelt, von der Leipziger Straße aus konnte man ihn, in der Ferne verschwimmend, nur ahnen, und vom Westen aus sah man auch nur auf ein Stück Feld, an dessen hinterem Rand sich so etwas wie Stadt versteckte.

Der einstmals verkehrsreichste Platz Europas war vom Krieg und von den Nachkriegs-Mauerbauern zur Brache gemacht worden, verloren und vergessen. Hier hatten sie am 12. November 1989 eine Bresche in den volkseigenen Wall geschlagen, vier Auto- und zwei Fußgängerspuren, groß genug, die gen Westen und wieder retour flutenden Menschen und Autos durchzulassen. Willy Brandts Forderung, die Mauer durchlässig zu machen, war hier augenscheinlich geworden, sehr bald sollte sich auch die Prophetie des weit nach Osten blickenden Politikers erfüllen: „Berlin wird leben – und die Mauer wird fallen.“

Aber nun kommt Richard von Weizsäcker des Wegs, und siehe: Ein Hoheitsträger der DDR, Offizier der Grenztruppen an der Nahtstelle zweier bis dahin verfeindeter Weltsysteme, salutiert vor dem weißhaarigen Repräsentanten des gerade noch heftig gescholtenen Klassenfeinds von da drüben, und sagt: „Herr Bundespräsident! Melde: Keine besonderen Vorkommnisse!“ Nicht mal eine Platzpatrone hat den Gang der Geschichte für Sekundenbruchteile aufgehalten. Die besonderen Vorkommnisse fanden mehr in den Köpfen, Herzen und Seelen all der quicklebendigen Maueropfer statt, die nun das „Nach-drüben-Machen“ übten wie den aufrechten Gang in eine neue, etwas ungewisse Zukunftszeit. Die Szene mit ihrem weißhaarigen Präsidenten hat Sigrid Klinke nicht erlebt, wohl aber jene, die sich – protokollarisch eine Etage tiefer – gewissermaßen vor ihrer eigenen Haustür abspielte. Die heute 74-Jährige war dabei, als die beiden Stadtoberhäupter Erhard Krack vom Osten aus und Walter Momper vom Westen aus aufeinander zugingen, sich die Hände schüttelten und gewissermaßen synchron tiefsinnig bemerkten: „Dies ist ein historischer Tag.“

War es auch für die TU-Sekretärin. Die wohnte nämlich im Huth-Haus, dem – neben dem Hotel Esplanade – einzig verbliebenen Gebäude am Potsdamer Platz, dem letzten West-Berliner Wohnhaus direkt vor der Mauer. Aus dem dritten Stock konnte sie alles sehen: die zugemauerten U-Bahn-Eingänge, das Niemandsland da drüben, wo höchstens einmal ein Doppelposten im Jeep zum nahen Wachturm fuhr, die in endlosem Strom die Aussichtsplattform erklimmenden Touristen, aber auch prominente Gäste wie die Queen oder Margaret Thatcher, Andenkenverkäufer, Wurstmaxe und die Füchse, die sich hier Gute Nacht sagten. Es gab diese merkwürdige Magnetschwebebahn, ein Biotop für Rollheimer und AL-Leute, die eines Tages 1988 am Lenné-Dreieck in den Osten sprangen, und den „Polenmarkt“. Sigrid Klinke entdeckte eine gut getarnte Stahltür in der Mauer, für wen wohl? Heute wohnt die couragierte Berlinerin gegenüber „ihrem“ Huthhaus. Der neue Platz „ist phänomenal“. Er entstand, weil Edzard Reuter es so wollte – und weil Ende März 1990 die Mauer Scheibe für Scheibe zerschnitten und zerschreddert wurde. Lo.

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