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Präsidentenwahl: Public Viewing vor dem Reichstag - vor fünf Jahren

Während drinnen gewählt wurde, übertrug vor fünf Jahren die ARD die Präsidentenwahl auf einer Großleinwand vor dem Reichstag. Ob die Begeisterung dabei auch so groß war wie bei den Fußballfesten auf der Fanmeile, verfolgte damals unser Reporter Sidney Gennies.

Norbert Lammert macht es spannend, als er das Ergebnis der Bundespräsidentenwahl verkündet. Nur einige Meter vor dem Reichstag hängen Hunderte Menschen an seinen Lippen und verfolgen auf einem Großbildschirm, was die Bundesversammlung so treibt. Als das Ergebnis verkündet wird, bricht Jubel los – für Gauck. Minutenlang feiert ihn die Menge. Der verhaltene Beifall für den eigentlichen Gewinner, Christian Wulff, wird einfach niedergebuht. Vor den Mauern des Reichstages, so scheint es, gelten andere Verhältnisse als innen.

„Für alle Deutschen Gauck“ steht auf einem großen Transparent. Der ältere Herr, der es seit 12 Uhr hochhält, gehört der Initiative „Demos für Gauck“ an. „Yabba Dabba Doo“, ruft er als Reminiszenz an Fred Feuersteins berühmten Freudenschrei aus, als klar wird, dass es für Wulff im ersten Wahlgang nicht reichen wird. Mit etwa zehn Aktivisten sorgt die Initiative für die meiste Stimmung, verteilt Gauck-Plakate. Nach und nach tragen auch immer mehr der Umstehenden „Gebt die Wahl frei“-Buttons. Die Hälfte ihres Materials seien sie schon losgeworden, erklärt Rainer Ohliger. Die Klatsche für Wulff sieht er als gutes Zeichen. „Dürften die Bürger wählen, gäbe es eine klare Mehrheit für Gauck“, sagt er. Dass es für den Kandidaten von SPD und Grünen reichen wird, glaubt er aber auch jetzt nicht.

Im Laufe des Tages schwindet das Interesse der Zuschauer merklich. Die Wahl zieht sich, die Sonne ist unerbittlich. Manch einem schlägt das aufs Gemüt. Als Delegierte zwischen den Wahlgängen staatsmännisch auf einen Balkon des Reichstages hinaustreten, um dort ihre Zigarettenpause abzuhalten, bekommen sie es mit dem ordinären Volk zu tun. Vor dem Balkon versucht ein Mann sie in ein Gespräch zu verwickeln. Er schimpft über Korruption und faule Absprachen in der Politik. Die Delegierten lächeln müde und winken ab. Zwei Polizeibeamte eilen herbei und schicken den unbequemen Bürger weg. Schlechte Stimmung möchte man hier nicht aufkommen lassen.

Dabei sind die meisten, die sich vor dem Bildschirm sammeln, emotionslos. Viele sind gekommen, um den Reichstag zu besuchen. Doch Kuppel und Besucherterrasse sind wegen der Wahl geschlossen. Eher ratlos bleiben sie auf dem Platz stehen und verfolgen nun eben die Übertragung. Nur wenige hartgesottene Profis harren mit Klappstühlen bewaffnet bereits seit Stunden aus. Eine Frau etwa will bis zum bitteren Ende bleiben. „Ich habe noch keine Präsidentenwahl verpasst“, erzählt sie. Als 1965 die Sowjets mit Kampfjets bei einer Bundespräsidentenwahl zur Einschüchterung über die Kongresshalle donnerten, war sie auch schon dabei: „Ich konnte förmlich in die Augen der Piloten blicken.“ Ehrensache, dass sie sich nun nicht abhalten lässt.

Doch nach mehr als neun Stunden, kurz vor der Verkündung, ist sie nicht mehr allein. Menschen sammeln sich vor der Videowand, wie sonst nur zur Übertragung eines WM-Spiels. Nachdem Wulff als neuer Präsident feststeht, macht sich in der Menge allerdings eine Stimmung breit, als hätte Deutschland dieses Spiel verloren, die schwarz-gelbe Regierung versagt: „Macht Merkel zur Präsidentin“, singt da Thomas Gostischa zum Klang seines Leierkastens. „Dann kann sie nichts mehr vermurksen.“ Wieder Applaus.

Der Beitrag erscheint in unserer Rubrik "Vor fünf Jahren".

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