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Berlin: Prenzlauer Berg: Fingerfertige Filme

Überfall mit Happy End: Heute lebt Volker Gerling mit der Frau zusammen, auf die er in der S-Bahn mit der Kamera zielte und abdrückte: Klick! Er setzte nicht ab: Klick!

Überfall mit Happy End: Heute lebt Volker Gerling mit der Frau zusammen, auf die er in der S-Bahn mit der Kamera zielte und abdrückte: Klick! Er setzte nicht ab: Klick! Und hörte nicht auf: Klick! Drei Bilder pro Sekunde schafft die Nikon F3. Sein Daumenkino "Frau im Zug" zeigt eine Dunkelhaarige, die aus dem Fenster schaut, danach fragend in die Kamera blickt und verlegen lächelt. Sie reißt die Augen auf, springt der Kamera entgegen, hält mit der Hand das Objektiv zu: schwarz, nichts, drei Bilder lang. Sie gibt die Linse wieder frei, lacht - hör endlich auf!, zieht die Augenbrauen hoch und schaut schließlich demonstrativ aus dem Fenster.

Die meisten Menschen würden nervös, wenn er von ihnen ein Daumenkino mache, sagt Volker Gerling. "Das sind die Augenblicke, auf die es ankommt." Sie guckten in die Kamera und wüssten nicht, was sie tun sollen. "Dann zeigen sie sehr viel von sich", sagt Gerling. Das fortgesetzte Klicken der Kamera sei aggressiv und gleichzeitig intim. Eine Bekannte des 32-jährigen Filmstudenten lief beleidigt davon, als er zu lange draufhielt. Er fragt vorher nie, wenn er von jemandem - meist sind es Freunde - ein Daumenkino-Porträt anfertigt: Seine Modelle denken, er wolle ein einfaches Foto machen.

Gerling sagt, er sei "Daumenkinograph". Er mag die aneinander gehefteten Fotos, die durch schnelles Schnippen einen ruckeligen Film in Schwarzweiß starten. Für seine Daumenkinos bastelt er Papphüllen, Buchbinder-Schrauben aus Messing halten sie am linken Rand zusammen. Für den Transport hüllt er sie vorsichtig in Papier.

Inszeniert ist eine Frau im weißen Kleid, die vom Stuhl aufspringt und tanzt: Die sich dreht, dann nach links und nach rechts springt. Und sich danach verbeugt. Ein Selbstporträt fotografierte Gerling auf einer Achterbahn im englischen Ort Blackpool: Während einer "horrormäßigen Fahrt in die Tiefe" hielt er die Kamera mit beiden Händen vor sich hin. Zu sehen ist ein Gesicht, das hin- und hergeworfen wird, unscharf, das sich verzerrt zur Grimasse: weit offener Mund, angestrengte Falten auf der Stirn, die Haare fliegen.

Seine Leidenschaft begann, als Gerling in einem Film sah, wie drei ähnliche Fotos nacheinander im Bild auftauchten: "Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen." Ingesamt 40 Daumenkinos fotografierte Gerling in den letzten drei Jahren. Um in den aneinander gereihten Fotos bewegte Bilder zu sehen, braucht das menschliche Auge mindestens sechzehn Bilder pro Sekunde. Das Daumenkino hat drei. "Film ist die perfekte Illusion", sagt Gerling dazu, reizlos sei das. Ein Daumenkino hätte viele Vorteile gegenüber dem Film: Man könne es in einem interessanten Moment einfach anhalten oder es rückwärts abspielen. Es passe in die Jackentasche und man könne es überall angucken, ohne Videorekorder, Fernseher und Strom. Er mag das Unpräzise an den Ritsch-Ratsch-Wackelbildern, das Verschwommene: "Daumenkino ist ein eigenes Medium mit eigenem Charakter." Und das Thema seiner Diplomarbeit an der Babelsberger Filmhochschule: Bisher gebe es noch keine Literatur darüber, sagt er.

Seine Fotos entwickelt er in der Dunkelkammer der "Meinblau"-Räume, einem Gemeinschaftsatelier von zwölf Künstlern auf dem Pfefferberg-Gelände. Zum "Tag der offenen Ateliers" am Sonntag, an dem Künstler aus Prenzlauer Berg ihre Werkstätten zeigen, werden auch die "Meinblau"-Projekträume für Publikum zugänglich sein, unter anderem mit einer virtuellen Duschkabine, in der auch jemand wäscht, vorgetäuscht von vier Videoprojektoren. Und Volker Gerling wird vierzig Daumenkino-Filme vorführen.

Christian Domnitz

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