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Berlin: Regine Noack (Geb. 1944)

"Franzosenbastard" haben die Kinder geschrien

Ihr Lachen, ihre knallroten Lippen und die tiefdunklen Augen“, schreibt ein deutscher Freund nach ihrem Tod, „sa beauté physique et celle du cœur“ – „ihre äußere Schönheit und die des Herzens“, ihre kleine französische Schwester.

Auf einem Foto aus früheren Tagen streckt Regine den weißen Hals, das schwarze Haar fließt auf ihre Schulter, über dem sanft geschwungenen Mund sitzt ein Muttermal und bewahrt ihr Gesicht vor elfenhafter Vollkommenheit. Auf einem Bild aus noch früheren Tagen schaut ein kleines Mädchen mit großen dunklen Augen ernst in die Kamera.

Deutsche Kinder haben ihren Kopf in Schneewehen gedrückt und „Franzosenbastard“ geschrien. Zur selben Zeit, in Frankreich, verschweigen tausende zurückgekehrter Kriegsgefangener ihre Liebschaften „avec une boche“ – „mit einer Deutschen“, die „un enfant maudit“ – „ein Kind der Schande“ geboren hatte.

2008, wenige Tage vor Weihnachten, liegt Regine in Berlin in der Badewanne. Steffen, ihr Mann, bringt ihr das Telefon: „Ein Anruf aus Frankreich.“ Zaghaft hält sie den Hörer ans Ohr. „C’est Édith, deine ältere Schwester. Gleich wird sich auch Nicole, deine jüngere Schwester, bei dir melden. Wir wollen dich sehen.“ Regine steigt aus der Wanne, tropfnass und verwirrt und glücklich.

Während des Krieges verliebten sich der französische Gefangene Marcel Lafosse und die deutsche Bauerntochter Anneliese Bühren auf dem Hof des Vaters im Sauerland ineinander. Anneliese, die Tochter der Sieger, wurde schwanger von einem Besiegten. Bevor ihr Bauch augenfällig anschwoll, schickten die Eltern sie unter dem Vorwand, einer Tante zur Hand gehen zu müssen, nach Brandenburg. Dort gebar sie Regine, ließ sie bei der Tante und fuhr nach Hause. Zwei Jahre später schickte man das Mädchen zu ihrer Mutter, eine Frau der Besiegten jetzt, mit dem Kind eines Siegers. Wenn die Kinder aus dem Dorf ihre Niederträchtigkeiten schrien, lief Anneliese hinaus und beschützte ihre Tochter. Aber Regine wollte schnell weg hier, heraus in die Welt. Sie ging als Au-pair nach London und Paris, sie begegnete Walter, zog mit ihm nach West-Berlin und bekam eine Tochter, Katharina. Sie holte das Abitur nach, studierte, begann an einer Grundschule zu unterrichten. Und sie traf Steffen. Auf hohen Schuhen, in eleganten Kleidern und mit diesem Isabelle-Adjani-Gesicht lief sie neben diesem rothaarigen, bärtigen Mann, der die Schöne nie mehr loslassen wollte. Aber sie war verheiratet; so vergingen Jahre des Ziehens und Zerrens, bis Regine sich entschied, das neue Leben zu wagen.

„Warum suchst du nicht nach deinem Vater?“, fragt Steffen. „Weil es auch die Geschichte meiner Mutter ist“, antwortet sie, „ich möchte ihr nicht weh tun. Und ist es nicht möglich, dass mein Vater mich verleugnet hat?“ Sie bekommt ein Buch des französischen Journalisten Jean-Paul Picaper geschenkt, „Le Crime d’aimer“ – „Liebe als Verbrechen“, und beginnt zu forschen. Der Weg über die Ämter in Frankreich erweist sich als zäh. Jean-Paul Picaper verspricht zu helfen. Er kommt mit einem Filmteam nach Berlin. Im Telefonbuch finden sie zwei Nummern, die infrage kommen. Bei der zweiten meldet sich eine Frauenstimme. Die Kamera läuft. Jean-Paul Picaper trägt sein Anliegen vor. Die Frauenstimme klingt unsicher. Sie sei die Witwe von Marcel Lafosse, sagt sie, er habe zwei Töchter, eine vor, eine nach dem Krieg geboren. Regine hält sich mit einer Hand am Türrahmen fest. Picaper schlägt vor, ein Foto von der kleinen Regine auf dem Bauernhof nach Frankreich zu schicken. Vier Tage später ruft Madame Lafosse zurück. „Je le sais“, sagt sie, „ich weiß, dass mein Mann eine Tochter in Deutschland hat. Er trug ihr Bild immer bei sich.“

Drei Jahre bleiben den Schwestern, drei warme, lebendige Jahre, auch wenn der Tod hinter allem hockt. Im Grunde hat Regine nun Zeit, sie unterrichtet nicht mehr, hat die Arbeit für die Projektschulen reduziert. Aber die Zeit zerrinnt, der Krebs kriecht tiefer in ihren Körper. Sie fährt ein letztes Mal nach Paris. Auf einem Foto sitzt sie in einem Restaurant, ihre vollen dunklen Haare fließen auf die Schultern, ihre Augen glühen und ihr schöner roter Mund lächelt. Tatjana Wulfert

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