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Gemeinsam lernen - das würden auch Roma-Kinder in Berlin gerne tun. Aber es gibt rechtliche Schwierigkeiten.

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Pro & Contra: Roma-Kinder - zum Schwänzen verurteilt

In Neukölln möchten Roma-Kinder aus Bulgarien zur Schule gehen, die Behörden lassen sie aber nicht. Im Pro & Contra debattieren dazu der Regierungsbeauftragte für Menschenrechte, Markus Löning, und Berlins Innensenator Körting. Diskutieren Sie mit!

Von Sandra Dassler

Wenn Ahmet begeistert türkische Lieder singt und dazu trommelt, wirkt er sehr kindlich. Nur der Stimmbruch verrät, dass er schon 13 Jahre alt ist. Ahmets zweite Leidenschaft sind Autos, er träumt davon, Kraftfahrer zu werden. Deshalb würde er auch gern zur Schule gehen. Doch er darf nicht, weil seine Eltern keine feste Wohnadresse angeben können. Dabei lebt Ahmet schon seit fast einem Jahr in Neukölln.

Auch Afize möchte gern zur Schule gehen – darf aber nicht. Die Achtjährige spielt heute Lila-Prinzessin. Von den verzierten Stiefelchen über Hose, Rock, Jacke bis zur Haarspange, die unter dem kecken schwarzen Pferdeschwanz wippt, ist alles Lila. Stolz präsentiert sie ihre Deutschkenntnisse: „Hallo, wie geht’s?“

Ihrer gleichaltrigen Freundin Nurten geht es gar nicht gut. Sie ist krank, kuschelt sich matt in die Arme ihrer Mama. Die ist mit Nurten und der sechsjährigen Fatma im letzten April nach Berlin gekommen. Sie möchte, dass ihre Töchter lernen, was sie bis heute nicht kann: Lesen und Schreiben. Doch auch Nurten und Fatma sowie weiteren fünf Kindern wird der Schulbesuch in Neukölln verweigert, weil sie nicht behördlich gemeldet sind.

Ahmet, Afize, Nurten und Fatma sind Roma aus Bulgarien. Obwohl ihre Eltern lieber sagen, sie seien bulgarische Türken. „Das kommt daher, dass Roma in Bulgarien oft mit der türkischen Minderheit zusammenleben“, sagt Mahiye Yilmaz. Sie leitete 2010 das Jugendexistenzgründungsprojekt „Die Taschengeldfirma“ in der Neuköllner Flughafenstraße. Das Projekt endete – die Kontakte sind geblieben. Hier finden Roma-Kinder auch jetzt noch zwei-, dreimal in der Woche Menschen, die sich mit ihnen beschäftigen.

„Die Taschengeldfirma“ gehörte zu dem vom Bund und der EU finanzierten Programm „Stärken vor Ort“ und wendet sich an 16- bis 21-Jährige, die Erfahrungen im unternehmerischen Bereich sammeln wollen. Es kamen viele, erzählt Mahiye Yilmaz. Türkische, deutsche, arabische Jugendliche, die ihr Talent als Geschäftsidee umzusetzen versuchten, sei es im Computerbereich, als Fotografen, Musikproduzenten oder Tänzer.

Vielleicht lag es an der Ungezwungenheit, mit der die jungen Leute arbeiteten, vielleicht an der offenen Atmosphäre oder einfach an den offenen Türen – jedenfalls waren die Roma-Kinder auf einmal da, schüchtern und neugierig zugleich. „Da beschlossen unsere Existenzgründer, ihre Ideen gleich umzusetzen“, sagt Mahiye Yilmaz. „Sie wollten ja den Kontakt in den Kiez und haben Deutsch- und Türkischkurse angeboten, Tanz-, Mal-, Spiel- und Trommelgruppen.“

Weil die Kleinen auch ihre Eltern mitbrachten, erfuhr Mahiye Yilmaz von der Situation der bulgarischen Roma. Sie dürfen als EU-Bürger legal einreisen, müssen aber nach drei Monaten eine sogenannte Freizügigkeitsbescheinigung beantragen, ein eigenständiges Gewerbe nachweisen oder sich arbeitssuchend melden.

Da sie eher sesshaft sind und in Neukölln bleiben wollen, schlagen sie sich mit Gelegenheitsjobs durch. Die Mutter von Nurten und Fatma lebt mit den Töchtern und einer Cousine, die auch zwei Kinder hat, in einem winzigen Zimmer. Sich anzumelden hat ihnen der offizielle Mieter untersagt, wahrscheinlich ist er Hartz-IV-Empfänger, bekommt seine Miete vom Jobcenter überwiesen und kassiert die Roma ab. Die wiederum bekommen keine andere Wohnung, weil sie keine festen Einkünfte haben.

Dennoch sei es für sie in Berlin leichter, ihre Familie durchzubringen, als in Bulgarien, sagt die Mutter von Nurten und Fatma. Sie betreue die Kinder anderer Roma-Frauen und bekomme dafür Geld. „Ich brauche keine Sozialleistungen vom deutschen Staat“, sagt sie. „Nur die Kinder sollen in die Schule gehen.“

Doch die Schulen sind überfordert. „Was sollen wir mit einem Zwölfjährigen ohne Deutschkenntnisse machen?“, fragt Neuköllns Bildungsstadträtin Franziska Giffey: „Den können wir nicht zu den Erstklässlern stecken. Und Kleinklassen für Seiteinsteiger gibt es nicht mehr.“

Die Senatsbildungsverwaltung verweist darauf, dass es den Bezirksämtern obliege, Kinder ohne Deutschkenntnisse an geeignete Schulen zu überweisen oder sie schulübergreifend zusammenzufassen und diese Schulen mit zusätzlichen Lehrerstunden aus dem Dispositionspool für Sprachförderung auszustatten. Doch Lehrer fehlten und das Geld reiche nicht, berichten Schulleiter. Mit Roma-Kindern bestehe zusätzlich das Problem, dass sie oft dem Unterricht fernblieben. Deshalb und aus versicherungstechnischen Gründen sei eine feste Adresse so wichtig.

Negin Karimian und Talu Tüntas halten das für vorgeschoben. Die beiden 18-Jährigen gehören zum Existenzgründerprojekt und haben mit den Roma-Kindern auch in den Sommerferien gearbeitet. Danach wollten sie Ahmet, Afize und weitere Kinder für das neue Schuljahr anmelden. „Es geht um neun Kinder“, sagt Negin Karimian: „Sie hatten solche Fortschritte gemacht. Es wäre so gut für sie gewesen, zur Schule zu gehen. Aber man hat uns eiskalt abgewiesen, obwohl wir den Kontakt zu den Eltern haben und bei Problemen vermitteln könnten.“

Tüntas und Karimian verweisen auf die UN-Kinderrechtskonvention, die Deutschland unterschrieben hat. Danach muss allen hier lebenden Kindern der Schulbesuch ermöglicht werden – selbst solchen ohne festen Wohnsitz oder Aufenthaltsgenehmigung. Auch im Berliner Schulgesetz steht, dass ausländische Kinder, die sich illegal oder ohne Freizügigkeitsbescheinigung in Berlin aufhalten, zwar keine Pflicht, wohl aber ein Recht auf Besuch öffentlicher Schulen haben.

An Kreuzbergs Schulen beispielsweise werden Kinder auch ohne behördliche Anmeldung aufgenommen, sagt Bildungsstadträtin Monika Herrmann (Grüne): „Wir überlegen sogar, für die Kinder der Roma-Wanderarbeiter, die nur im Sommer kommen, eine Schule einzurichten.“

Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) ist hingegen der Ansicht, dass berlin-, deutschland- und europaweit Lösungen gefunden werden müssen. „Wir müssen Kindern aus der Armutswanderung legale Strukturen geben“, sagt er: „Kinder ohne festen Wohnsitz, ohne behördliche Anmeldung und ohne gesetzliche Vertreter können wir nicht beschulen. Eine solche Handhabung würde alle rechtsstaatlichen Ordnungsprinzipien ad absurdum führen“.

Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte widerspricht dem vehement. „Das Recht der Kinder auf Bildung hat absoluten Vorrang“, sagt der Wissenschaftler: „Wenn sich daraus organisatorische Probleme ergeben, muss der Staat diese eben regeln.“

Neuköllns Bildungsstadträtin Giffey hat dazu erste Schritte unternommen. Man versuche, berlinweit Lösungen für die Roma zu finden, sagt sie. Vielleicht können Ahmet, Afize, Nurten und Fatma irgendwann doch noch zur Schule gehen.

Die Namen aller Roma-Kinder wurden geändert.

PRO

Markus Löning

© picture alliance / dpa

Bildung ist ein Menschenrecht. Und Kinder sind Menschen, für die dieses Recht ohne jede Einschränkung gilt. Völlig egal, wer ihre Eltern sind, welche Hautfarbe sie haben oder welcher Religion sie angehören.

Dass die Berliner Schulen nicht gut genug ausgestattet sind, ist keine Neuigkeit. Viele Gebäude sind marode, es fehlen Lehrer. Die Berliner Eltern weisen zu Recht seit vielen Jahren darauf hin. Das ist aber kein Grund, Kinder abzuweisen. Es sollte vielmehr ein Grund sein, unsere Schulen endlich für alle Kinder auf einen guten Stand zu bringen.

Jetzt wollen Kinder unbedingt in die Schule gehen, deren Eltern sich nicht an die Bedingungen der Meldebehörden halten. Welche Chancen im Leben werden diesen Kindern eigentlich verwehrt, wenn sie nicht Deutsch lernen dürfen, nicht Lesen, Schreiben und Rechnen? Diese Verweigerung des Rechts auf Bildung, diese Zerstörung von Lebenschancen ist nicht hinnehmbar.

Kinder dürfen nicht dafür bestraft werden, dass ihre Eltern vielleicht etwas falsch machen. Und mal ganz ehrlich: Wie viele Eltern in Berlin verstoßen eigentlich gegen das Meldegesetz, um ihre Kinder in eine Schule in einem anderen Bezirk zu bekommen? Sollen diese Kinder als nächste ihre Schulplätze verlieren?

Ich empfinde es als zynisch, Kindern mit einer solchen bürokratischen Begründung ihr gutes Recht zu verweigern. Es ist Aufgabe von Senat und Bezirken, dafür zu sorgen, dass alle Kinder zur Schule gehen können und so die Chance auf einen Abschluss und eine Berufsausbildung bekommen. Da ist keine Ausrede akzeptabel.

Wir Deutschen setzen uns stark für die Menschenrechte ein. Wir wollen, dass sie für alle Menschen auf der ganzen Welt gelten. Das schließt Neukölln ein.

Markus Löning ist FDP-Politiker und Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechte.

CONTRA

Ehrhart Körting

© Kitty Kleist-Heinrich

Eine Politik, die mit den kriminellen und sozialen Missständen der Illegalität aufräumen will, muss alles daran setzen, Illegalität zu beenden. Das erreichen wir nicht, indem wir über anonyme Krankenscheine diskutieren, die wegen des Rechts auf Gesundheit auch jedem Illegalen zustehen sollen, oder indem wir das Recht der hier illegal lebenden Kinder auf deutsche Bildung betonen.

Unter diesen Zuständen leiden vor allem die Kinder. Dass sie keine Schule besuchen, ist allerdings nicht ein Versagen unseres Staates, sondern der Eltern, die sich und ihre Kinder in der Illegalität halten.

Den Befürwortern von Sonderregelungen für Illegale geht es um Rechtsansprüche gegen den Sozialstaat aus einem anonymen Hiersein heraus. Diese Menschen leben nicht offiziell in diesem Staat, bekennen sich nicht zu ihm, tragen nicht zu ihm bei, missachten seine Gesetze, werden straffällig, aber der Sozialstaat soll seine Leistungen erbringen. Staat ist Gemeinschaft. Wer nicht zu dieser gehört, mag von einzelnen Menschen humanitäre Hilfe erhalten, vielleicht auch von einem Schulleiter, der aus humanitärer Gesinnung ein nicht angemeldetes Kind gleichwohl aufnimmt. Aber wer sich der staatlichen Gemeinschaft entzieht, kann aus meinem Verständnis einer Gemeinschaft nicht die Solidarität einklagen, die er durch ständige Missachtung unserer Gesetze bricht.

Deswegen muss das Ziel von jeder Debatte die Legalisierung von Illegalen sein, und nicht die Förderung von Illegalität. Deshalb kann ich mir ein Bleiberecht auf Probe für diejenigen Illegalen vorstellen, die sich offenbaren und sich auch durch eigene Leistung in die Gesellschaft einbringen – nicht aber Ansprüche aus der Anonymität.

Ehrhart Körting ist SPD-Politiker und Innensenator des Landes Berlin.

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