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Schule: Aufwachsen im Westen

Die Eltern und die Schule vermeiden jeden Anschein von Erziehung. Die Lehrer sind grauenhaft, Ziele gibt’s keine. Dann kommen die Referendarinnen ohne BH.

Ein Dorf im Teutoburger Wald, eingezwängt von Neubausiedlungen. Heiligenkirchen bei Detmold. Tiefste westdeutsche Provinz. Blick aufs Hermannsdenkmal, das die Nazis zur Kultstätte machen wollten. Sieben Meter misst das Schwert. Ein guter Ort für Kinder. Auf den Wiesen stehen Mohnblumen. Cowboys und Indianer liefern sich Gefechte. Guido hat die meisten Matchboxautos. Judith darf Plätzchen in der Backstube ihrer Eltern backen. Nichts schmeckt besser, außer vielleicht eine Scheibe Schichtnougat für eine Mark oder Brausepulver im Freibad.

Ich lebe mit meinen Eltern und meiner älteren Schwester in einer Mietwohnung. Erster Stock in einem Zweifamilienhaus mit riesigem verwilderten Garten. Das ist ungewöhnlich. Die anderen wohnen in rot oder ocker verklinkerten Eigenheimen mit gestutztem Rasen und akkurat abgetrennten Gemüsebeeten. Wohlstand ohne Überfluss. Um halb vier gibt es bei den Nachbarn Kaffee und Kuchen, jeden Tag. Mit Schlagsahne. Ich bin immer pünktlich.

An der Zimmerwand eine Weltkarte, Tunesien ist auf Augenhöhe. Mit dem Universum-Kassettendeck nehme ich den Rockpalast und die besten Stücke aus der Radiothek auf. Wir verreisen oft, fliegen in den Süden oder nach London zu Tante Mascha. Die DDR? Das ist Ausland, weiter weg als die USA.

Erziehung gibt es zu Hause so ausdrücklich nicht. Es gilt das Prinzip Belohnung: Wenn ich in Latein eine Eins schaffe, bekomme ich ein neues Fahrrad. Aber ich habe in Latein immer nur Vieren und bekomme doch ein neues Fahrrad, etwas später. Ich kriege alles, sogar das Fahrtenmesser, das meine Eltern abstößt, weil es sie an die HJ erinnert. Druck ist trotzdem da. Der Abendbrottisch als Kräftemessen. Akademikereltern, sie wünschen sich intellektuelle Brillanz. Sport ist vulgär. Von wem ist Dr. Schiwago? Ich vergesse es immer wieder, steige im Flur auf einen Stuhl, um den Buchrücken zu entziffern. Pasternak.

Auch die Schule vermeidet bald jeden Anschein von Erziehung. In den ersten Jahren, Anfang der siebziger Jahre, sind die Lehrer grauenhaft. Ein rotgesichtiger Religionslehrer, der Siegfried nicht widerspricht, als der findet, dass die Juden selbst schuld waren. Aber dann kommen Referendare mit wilden Bärten und Referendarinnen ohne BH. Der Marsch in die Verbeamtung geht schnell. Die Popperzeit mit Polohemd und Lambswoolpullover währt nur kurz, zu uncool. Selbst gedrehte Zigaretten, Drum, Vannelle, Schwarzer Krauser. Sekundarstufe II.

Die Grenzen verwischen. Ein Lehrer zieht mit Toni zusammen. Jeder weiß es, niemand darf es wissen. Ein anderer steht auf Nicole und leiht ihrem Freund sein Auto, das der zu Schrott fährt. Große Gefühle, Verwicklungen, Tränen. Es wird gesoffen. Ravini von Aldi kostet keine drei Mark, das reicht fürs Delirium.

So machen wir alle 1984 unser durchschnittliches Abitur. Kaum einer weiß nach 13 Schuljahren, was er eigentlich wirklich werden will. Studieren klar, aber was? Egal, Hauptsache raus hier. Ich lade meinen Renault voll und ziehe nach Marburg, in meine erste WG. Kein Gedanke an Ziele, das kommt erst viel, viel später. Heute ärgere ich mich darüber. Vertane Zeit?

Moritz Döbler leitet heute die Wirtschaftsredaktion des Tagesspiegels.

Moritz Döbler (West)

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