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Mieke Senftleben erklärt den Achtklässlern der Kepler-Schule Geometrie.

© Mike Wolff

Ex-Abgeordnete Mieke Senftleben: Politikerin im Praxistest

Nach zehn Jahren im Parlament steht FDP-Bildungsexpertin Mieke Senftleben jetzt vor einer Neuköllner Brennpunktklasse - als Vertretungslehrerin.

Es ist das Ende einer Doppelstunde. Mathematik, achte Klasse in der Kepler-Schule in Neukölln. Zehn Schüler sitzen im Klassenraum, elf waren es zu Beginn des Unterrichts, doch einen hat die Lehrerin rausgeschickt. In der mittleren Reihe die Jungs, denen man die Testosteronschübe ansieht, die schnell wachsenden Muskeln, mit denen die geistige Entwicklung nicht Schritt zu halten scheint. In der hinteren Ecke haben sich drei Mädchen zurückgezogen, kichernd, ein anderes Mädchen sitzt allein auf der anderen Seite, in sich versunken, sie zeichnet die ganze Zeit Comicfiguren.

Die Lehrerin hat gekämpft, unermüdlich ist sie von Tisch zu Tisch gegangen, hat den Schülern beim Ausschneiden der Parallelogramme geholfen, die Formel zur Berechnung der Fläche erklärt. Groß ist sie an die Wand projiziert, für alle sichtbar, Grundseite mal Höhe, g x h. Nur ablesen müssten die Schüler das, und dann mit dem Lineal ihr ausgeschnittenes Parallelogramm nachmessen. Doch die Schüler geben auf die Frage der Lehrerin keine Antwort. Ein Mädchen legt die Füße auf den Tisch, ein Junge in der ersten Reihe klatscht in die Hände und auf den Tisch. Der Boden ist mit Schnipseln und zusammengeknüllten Papieren bedeckt. „Wie es hier wieder aussieht“, sagt die Lehrerin, dann hält sie inne und leiser sagt sie, mehr zu sich selbst: „Manchmal finde ich es einfach nur noch lustig.“ Was soll sie auch tun, sie hat die Wahl zwischen resignieren und drüberstehen.

Die Lehrerin ist harte Auseinandersetzungen gewohnt, schnell aufzugeben ist nicht ihr Ding. Es handelt sich um Mieke Senftleben, Bildungsexpertin der Berliner FDP. Zehn Jahre saß sie im Abgeordnetenhaus und machte sich dort einen Namen als profilierte Kennerin des Berliner Schulwesens, parteiübergreifend wurde sie geschätzt. Und jetzt ist sie Vertretungslehrerin an einer Schule, die wohl zu den schwierigsten der ganzen Stadt gehört, und erlebt den ungeschönten Schulalltag von unten.

Nahe dem S-Bahnhof Sonnenallee liegt die Kepler-Schule, die Arbeitsagentur ist nicht weit, die Highdeck-Siedlung auch nicht. Über 80 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund, die Schwänzerquote ist deutlich höher als an anderen Neuköllner Schulen. Wer hier landet, hat sich das in der Regel nicht freiwillig ausgesucht, sondern wurde an anderen Schulen nicht genommen. Nur zwei Zehntklässler schafften im letzten Jahr den Mittleren Schulabschluss. Die anderen Hauptschulen in der Nähe fusionierten bei der Sekundarschulreform mit Realschulen, die Kepler-Schule blieb allein übrig. „Über uns schwebt noch das Schild ’Hauptschule’“, sagt Rektor Wolfgang Lüdtke. „Wir brauchen noch ein, zwei Jahre, bis der Umbau zur Sekundarschule gelingt. Ich bitte mein Kollegium, das durchzuhalten.“ Doch viele Lehrer sehen abgekämpft und müde aus, der Krankenstand ist hoch.

An der Wand hängen die Klassenregeln. Beachtet werden sie nicht immer.
An der Wand hängen die Klassenregeln. Beachtet werden sie nicht immer.

© Mike Wolff

„Da haben Sie sich ja die schönste Schule im Bezirk ausgesucht“, hatte der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky zu Senftleben gesagt, als er von ihrem Engagement hörte. Im Lehrerzimmer sei sie freundlich aufgenommen worden, ein kritisches Beäugen, wie sich die Politikerin in der Praxis mache, das habe sie nie gespürt, sagt Senftleben. Ein Problem sei die Respektlosigkeit der Jugendlichen. Kaum ein Wort von ihnen, das keinen trotzig-aggressiven Unterton hat. „Sie sind dicker geworden“, hat ein Schüler einmal zu ihr gesagt. „Stimmt nicht, ich habe abgenommen. Und außerdem geht dich das gar nichts an“, war Senftlebens Antwort. Wie sie ihre neue Lehrerin finden, das ist den Schülern nicht zu entlocken. Vertretungslehrer hätten es schwer, von den Schülern akzeptiert zu werden, sagt Lüdtke. „Ihnen fehlt die Klassen-Mama, ihre vertraute Lehrerin.“ Doch warum tut Senftleben sich das eigentlich an?

Nach der kläglichen Wahlniederlage der FDP und ihrem Ausscheiden aus dem Abgeordnetenhaus im letzten Herbst hatte sich Mieke Senftleben erst mal dem Großputz zu Hause gewidmet. „Regale auswaschen und so etwas, dazu bin ich ja sonst nie gekommen.“ Die Zeit in ihrem Haus in Frohnau hat sie genossen, hat Papierstapel ausgemistet, all ihre Reden und die Zeitungsartikel über ihre Arbeit gesichtet und geordnet. „Da habe ich gemerkt, dass in all den Jahren doch einiges zusammengekommen ist und ich etwas geleistet habe.“ Wie eine Therapie sei das gewesen, sagt sie. „Danach konnte ich auch loslassen.“

Auf dem Neujahrsempfang des Verbandes Bildung und Erziehung traf sie dann auf Wolfgang Lüdtke. Die beiden kennen sich schon länger, Senftleben engagierte sich früh für die Brennpunktschulen. Lüdtke erzählte ihr, wie schwierig die Personalsituation an seiner Schule mal wieder sei, dass er einfach keine Mathematiklehrer finde und eine Kollegin wegen einer Operation bald länger ausfallen werde. Ob sie nicht einspringen wolle, fragte er Senftleben. Sie überlegte eine Nacht lang, dann sagte sie zu. Schließlich war sie schon einmal Lehrerin gewesen, in den siebziger Jahren, an einer Hauptschule in Schwerte im Ruhrgebiet. Doch vergleichen könne man die Arbeitsbedingungen von damals mit denen in Neukölln heute nicht. Senftleben lacht auf. Bei Weitem nicht.

Anfang Februar ging es los, bis Ende April wird sie noch dort arbeiten, dann ist wieder Schluss. „Nein, ich möchte das nicht weitermachen“, sagt sie bestimmt. „Ich bin 59 Jahre alt und weiß auch nicht, ob ich den Jugendlichen wirklich helfen kann.“ Fünf Stunden Mathematik unterrichtet sie in der Woche, dazu kommen noch drei Stunden im sogenannten Trainingsraum der Schule. Mit Sport hat das allerdings nichts zu tun. Dort müssen sich die Schüler einfinden, die vom Lehrer aus dem Unterricht verwiesen wurden, und einen Text abschreiben. Senftleben hält nicht viel von dieser Strafmaßnahme. „Es wäre viel sinnvoller, wenn man den Schülern dort etwas in Ruhe beibringen würde, wenn man sie schon mal einzeln vor sich sitzen hat.“

Nicht das einzige Mal, dass sie eine andere Meinung als die Schulleitung hat. Fragt man Senftleben, was sie verbessern würde, blitzen ihre Augen. Die stärkeren und die schwächeren Schüler trennen und in Lerngruppen unterrichten. Alle unterschiedlichen Leistungsniveaus zusammen in der gleichen Klasse – das funktioniere an einer solchen Schule nicht. Auch bei der Elternarbeit könne mehr gemacht werden. „Fast niemand hier nimmt das Bildungspaket in Anspruch“, sagt sie. Mit mehr Personal, wie es Lüdtke fordert, sei es ihrer Meinung nach jedenfalls nicht getan. Neue Konzepte für die Brennpunktschulen müssten her. Und da klingt sie wieder ganz wie die Politikerin.

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