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Aufgepasst. Vivian Gehrke unterrichtet in Kreuzberg.

© Thilo Rückeis

Lehrer in Berlin: Ein Beruf, zwei Welten

Die eine unterrichtet an einer Kreuzberger Brennpunktschule, die andere am Gymnasium in Prenzlauer Berg. Beide Lehrerinnen sagen: Ich arbeite gern hier und will nicht tauschen. Besuch in zwei neunten Klassen.

13. November 2013: „Messerattacke an Berliner Schule. Ein Stich in den Rücken“, 12. Dezember 2015: „Achtklässler nach Schlägerei suspendiert“, 28. Januar 2016: „Tritte, Überfall auf Erzieher, Pöbeleien“.

Schlagzeilen, Gerüchte – klar, die habe sie gekannt. „Was man von Brennpunktschulen eben so hört.“ Vivian Gehrke ist neu in Berlin, als sie vor eineinhalb Jahren ihr Referendariat in der Hauptstadt beginnt. Von innen hat sie eine Berliner Schule bis dahin noch nicht gesehen. Eine Brennpunktschule erst recht nicht. Doch sie hat keine Wahl: Sie bekommt einen Platz an der Hector-Peterson-Schule in Kreuzberg zugeteilt: hoher Migrantenanteil, leistungsschwache Klientel, sozialer Brennpunkt. Durchhalten. Einfach durchziehen, denkt sie sich selbstbewusst: „Nach eineinhalb Jahren kann ich ja wieder gehen.“

Alles nur ein Vorurteil?

Brennpunktschule. Monika Steinhagen, Schulleiterin an der Hector-Peterson-Schule, hört diesen Begriff äußerst ungern. Erzeugt er doch Bilder im Kopf, schürt Ängste und sorgt für einen miserablen Ruf. Und das nicht nur in der Öffentlichkeit, bei Eltern und Schülern, sondern auch bei jungen Lehrern. „Die suchen sich lieber renommiertere Schulen mit einer anderen Klientel.“ Doch ist die Arbeit dort wirklich so viel schlimmer oder ist alles bloß ein Vorurteil?

Ein Beruf – zwei Arbeitswelten. Vivian Gehrke unterrichtet an der Hector-Peterson-Schule. Louise Stähr ist seit diesem Schuljahr Referendarin am Heinrich-Schliemann-Gymnasium im Prenzlauer Berg. Die eine im Brennpunkt, die andere im Akademikerviertel. Beide sagen von sich: „Ich arbeite gerne hier.“

Nicht alle erscheinen zum Unterricht

Mit einer großen Tüte voller Lebensmittel kommt Vivian Gehrke an diesem Vormittag in den Klassenraum. Bananen, einen Milchdrink, Kekse und Schokolade stellt sie auf den Tisch. In der neunten Klasse der Kreuzberger Schule sitzen sieben Jungen und zwei Mädchen. Manche Tische sind bemalt, von anderen blättert der Lack ab. Vier Schüler fehlen heute. „Einen Dauerschwänzer haben wir dabei. Den habe ich in diesem ganzen Schuljahr erst einmal gesehen“, sagt die 25-Jährige mit den rot gefärbten Haaren und der schwarzen Brille auf der Nase. „What do all the things have in common?“, fragt sie und beginnt den Englischunterricht. Die Jungen und Mädchen sind aufgestanden, nach vorne gekommen, um sich die Produkte anzuschauen. Nur Mehmet hat keine Lust. Er verkriecht sich lieber in seiner Jacke. Bananen? Schokolade? Was sollen die schon gemeinsam haben? „Schaut euch mal dieses Siegel an“, sagt Vivian Gehrke, wechselt ins Deutsche und weist auf die Fair-Trade-Kennzeichnung hin. „Ah, ich weiß. Das ist nicht mit Kinderarbeit“, schallt es plötzlich in den Raum.

Etwa acht Kilometer weiter nördlich. Die Sonne fällt in das hell gestrichene Klassenzimmer. Vor der elektronischen Tafel steht Louise Stähr. Kurzhaarfrisur, Brille, seit einem halben Jahr Referendarin für Latein und Geschichte. „Warum fehlte der Geist der Demokratie in der frühen Weimarer Republik?“, steht auf dem Smartboard. Die zweite Stunde in einer neunten Klasse am Heinrich-Schliemann-Gymnasium im Prenzlauer Berg ist gerade angebrochen. Auf den Tischen liegen Federmappen, Bücher, Hefte. Simon meldet sich. „Die Parteien waren für unterschiedliche Staatsformen“, gibt er als Antwort. „Richtig. Noch was?“, fragt Louise Stähr und blickt in die Gesichter von 22 Jungen und Mädchen. Leises Gemurmel ist zu hören. Louise Stähr wirft einen Blick in die rechte Ecke, als es ein bisschen lauter wird. Zwei fühlen sich angesprochen und werden sofort wieder still.

Deutsch ist für viele die erste Fremdsprache

Zurück in Kreuzberg. „Hast du die Sendung gesehen?“, sagt Ayla und dreht sich zu ihren Klassenkameraden um. „Echt? Guckst du das?“, fragt auch Özgül. Die Jungen und Mädchen wechseln mal ins Türkische, mal ins Deutsche. Alles – außer Englisch. Ist die Sprache so schwer zu vermitteln? „Das Deutsche ist für viele schon die erste Fremdsprache. Mit dem Englischen kommt eine weitere dazu“, erklärt Gehrke. Fast zu 100 Prozent besuchen Schüler mit Migrationshintergrund die Hector-Peterson-Schule. „Hey, habt ihr nichts zu tun?“, schaltet sich Gehrke in das Gespräch der Jungen und Mädchen ein. Die Schüler sollen aus ihrem Buch Infos über die faire Schokoladenherstellung heraussuchen und notieren. Gehrke ist im Klassenraum unterwegs, wandert von einem Tisch zum nächsten: „Mit Schere schreibt man aber schlecht!“, ermahnt sie Mesut. Der Junge lacht.

„Analysiere das Schaubild!“, „Erklärt euch die Verfassungsorgane!“: Gerade mal 15 Minuten ist es her, dass Louise Stähr das Blatt mit den Arbeitsanweisungen ausgeteilt hat. „Wollen wir weitermachen?“, fragt sie jetzt und schon gehen die ersten Finger nach oben. Charlotte, Noah, Leander, Isabelle – alle wollen sie die Aufmerksamkeit ihrer Lehrerin. „Das sind echt super motivierte Schüler, sie bringen richtig viel Vorwissen mit. Das macht den Unterricht so lebendig und abwechslungsreich“, sagt sie später – nicht ganz ohne Stolz auf ihre Klasse. Es bleiben nur noch wenige Minuten, bis die Pausenglocke Louise Stährs Stunde beenden wird. Ein Fazit des Unterrichtsinhalts muss her. Die Schüler sollen Risiken und Gefahren der neuen Herrschaftsform benennen. „Ich werde die Punkte nicht anschreiben. Stattdessen sollt ihr selbst reflektieren.“

In der Pause geht die Arbeit weiter

Für Vivian Gehrke ist die Stunde auch nach der Pausenglocke noch nicht vorbei: Younes sitzt am Boden und sucht seine Stiftekappe. Mahmut hat kurzerhand seinen Sitzplatz verlegt, nachdem er und sein Sitznachbar sich gegenseitig beschimpft hatten. Einen Schüler, der sich bei einem anderen Lehrer im Tonfall vergriffen habe, zitiert sie nach vorne: „Was war los? Du gehst jetzt zu ihm und entschuldigst dich. Sonst muss ich eine Klassenkonferenz einberufen.“

Als Gehrke den Raum schließlich fast verlassen will, hat noch ein Mädchen eine Frage: „Haben wir morgen Schule?“ Gehrke schaut sie etwas irritiert an, fängt sich dann wieder und antwortet: „Na, klar. Morgen ist doch Donnerstag.“

Vor wenigen Wochen hat Vivian Gehrke ihr Referendariat beendet. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ihre erste Überlegung wahr machen und die Schule wechseln könnte. „Nein, ich bleibe“, sagt sie heute. „Ich bin angekommen. Das ist das, was ich machen will.“

Die Theorie aus der Uni reicht nicht als Vorbereitung

Was ist mit der jungen Frau seit ihrer Ankunft an der Hector-Peterson-Schule in Kreuzberg passiert? Der Anfang sei nicht leicht gewesen, sagt sie. „Das war mit der Theorie, die ich in der Uni mitbekommen habe, gar nicht zu vergleichen“, erzählt Gehrke, die in Halle Deutsch und Englisch studiert hat, eigentlich fürs Gymnasium, und in Berlin eine Zusage für ein Referendariat bekommen hat. „Ich musste mir erst mal Respekt verschaffen. Natürlich haben die Schüler ausgetestet, wie weit sie bei mir gehen dürfen.“ Kleine Auseinandersetzungen würden sich auch heute immer mal wieder hochschaukeln. „So etwas arbeitet dann auf dem Nachhauseweg in mir.“ Große Schlägereien mit Verletzten, Messerstechereien – diese Horrorszenarien seien ihr bisher aber erspart geblieben. Ihre Herausforderung heute: den Unterricht so zu gestalten, dass die Schüler Lust haben, in die Schule zu gehen. „Ich muss den Schülern eine Struktur geben und eine Sicherheit ausstrahlen, die ihnen selbst fehlt. Nur wenn ich einen Plan habe, machen sie auch mit.“

Louise Stähr sind Brennpunktschulen bisher fremd. Kann sie sich vorstellen, dort zu arbeiten? Eine Antwort kommt ihr nicht direkt über die Lippen. „Ich kann froh sein, wenn ich mit meinen Fächern Latein und Geschichte nach dem Referendariat überhaupt einen Job finde. Es gibt dafür genug Lehrer.“ Hätte sie aber die Wahl, sagt sie schließlich, dann würde sie wohl an ein Gymnasium gehen wollen. „Ich würde schon gerne auf einem hohen intellektuellen Niveau arbeiten“, gibt sie am Ende ganz kleinlaut zu. Fast so, als wäre das etwas Verwerfliches.

Vivian Gehrke kann das durchaus nachvollziehen. „Ich muss bei meiner Arbeit aber das Fachliche hinten anstellen.“ Was sie vermisst, holt sie in ihrer Freizeit nach: Bücher und Filme schaut sie auf Englisch. Ihre Mission ist eine andere: „Ich will hier rausgehen und sagen: Ich habe alles für die Zukunft dieser Kinder gegeben. Und wenn es dann nicht reicht, kann ich mir keinen Vorwurf machen.“

Wie findet man geeignete Lehrer? Diskussion um Zulagen

PÄDAGOGEN GESUCHT

Rund 1400 Lehrer muss das Land Berlin in diesem Jahr noch einstellen. Insgesamt liegt der Bedarf 2016 bei 2400 neuen Lehrern, 1000 wurden bereits im Februar eingestellt. Die meisten Lehrer fehlen an Grundschulen. Deshalb werden dort auch Studienräte eingestellt. Im vergangenen August waren unter 732 neu eingestellten Lehrern in den Grundschulen 218 Studienräte.

DISKUSSION UM ZULAGEN

Besonders schwer haben es Grund- und Sekundarschulen in sozialen Brennpunkten, gute Lehrer zu finden. Ausgerechnet sehr gut qualifizierte Pädagogen arbeiten oft nicht dort, bemängelt Manuel Honisch, Sprecher der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Stattdessen landen an den Brennpunktschulen häufiger Quereinsteiger. Immer wieder wird deshalb diskutiert, ob es Zulagen für Lehrer geben soll, die an diesen Schulen arbeiten. Dafür setzt sich beispielsweise der Neuköllner SPD-Abgeordnete Joschka Langenbrinck ein. Brandenburg plant derzeit eine 300-Euro-Zulage für Lehrerstellen, die mehrfach ohne Bewerber blieben.

ANDERE ANREIZE

Diskutiert werden auch andere Anreize. Kleinere Klassen, weniger Stunden in der Woche, mehr Schulpsychologen und Schulsozialarbeiter, mehr Zeit für Erziehungsaufgaben und weniger Verwaltung, schlägt Florian Bublys vom Verein „Bildet Berlin“ vor: „Der Senat muss die Rahmenbedingungen schaffen.“

Das Brennpunktschulprogramm, über das Schulen bis zu 100 000 Euro im Jahr zusätzlich bekommen, habe bereits geholfen, die Bedingungen an den Schulen zu verbessern, sagt SPD-Politiker Langenbrinck. Auch in der Ausbildung der Lehrer müssten Änderungen vorgenommen werden und mehr psychologische und sozialpädagogische Kenntnisse vermittelt werden, sagt Heidrun Quandt, Landesvorsitzende beim Verband Bildung und Erziehung. Letztlich müsse die Arbeit in den Brennpunktschulen aber freiwillig geschehen: „Man kann niemanden gegen seinen Willen dorthin bringen.“ jbw/svo

Julia Bernewasser

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