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Integration: Pädagogische Pioniere am Ziel

Der erste Jahrgang der deutsch-türkischen Europaschule erhält heute Abizeugnisse. Türkisch als Partnersprache war erst umstritten.

Die Jungs und Mädchen werfen wild mit Kriegstheorien um sich. „Die Europäische Union würde der Türkei aus der Patsche helfen und Amerika würde die Kurden unterstützen“, sagt etwa Ayse. Nalan Kilic, die Lehrerin, korrigiert sie: „Du meinst die USA würden das tun, denn Amerika ist ein Kontinent.“ Eine Mitschülerin glaubt, „das Militär hat doch heute schon über fast alles ...“, sie sucht nach dem passenden Wort, „Macht“. Wörter wie Militärputsch, Bourgeoisie und Waffenhandel fallen im Klassenzimmer der Carl-von-Ossietzky-Gesamtschule in Kreuzberg. Es ist 12.45 Uhr, die Schüler der Klasse 11.1 haben Geschichtsunterricht. Auf Türkisch.

Zuvor haben sie den schwarzmalerischen Kommentar eines türkischen Kolumnisten gelesen. „Wenn ein dritter Weltkrieg ausbrechen würde, welche Konsequenzen hätte das für Deutschland, die Türkei und Europa?“, hatte die Lehrerin gefragt. „Sie sollen den komplizierten Text miteinander besprechen“, sagt Kilic, „dadurch lernen sie die Sprache besser.“ Fächer wie Biologie, Musik, Erdkunde und politische Wissenschaft lernt die Gruppe der deutsch-türkischen Europaschule in ihrer ersten Fremdsprache, oft mit Projektarbeit. Das Konzept geht auf: Zwar mogeln die 16-Jährigen hin und wieder deutsche Wörter wie „also“ oder „na ja“ unter, doch ihr Türkisch ist außergewöhnlich gut. Kilic ist sichtlich zufrieden.

Richtig stolz ist die 39-jährige Pädagogin aber auf den ersten deutsch-türkischen Jahrgang, der an diesem Dienstag sein Abiturzeugnis erhält. Die Hälfte der 16 Pioniere hatte sogar von der ersten bis zur 13. Klasse Türkisch als erste Fremdsprache. Ihre Ausbildung war einst ein Politikum. Zu ihrer Abifeier in der Schulmensa werden deshalb auch Prominente zu Gast sein: der Grünen-Abgeordnete Özcan Mutlu, Berlins Integrationsbeauftragter Günter Piening sowie Bildungsstadträtin Monika Hermann (Grüne). Sogar der türkische Generalkonsul Mustafa Pulat hat sich angemeldet.

„Es war keineswegs leicht, die deutsch-türkische Europaschule beim Senat durchzusetzen“, sagt Mutlu, der sich in den 90er Jahren als Politiker und Vater von zwei Kindern für den türkischen Zweig engagiert hatte. Inzwischen rühmt sich Berlin mit dem bundesweit dichtesten Netz von Staatlichen Europaschulen, in denen von Anfang an zweisprachig gelehrt wird. Die ersten bilingualen Klassen starteten 1992 mit 160 Schülern. Heute gehören zu diesem besonderen Modellprojekt fast 6000 Schüler an 18 Grund- und zwölf Oberschulen, wo sie neben Deutsch von Anfang an als Partnersprache Englisch, Französisch, Russisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch, Portugiesisch oder Polnisch lernen.

Erst im Jahr 1996 kam auch Türkisch dazu. Nach langen politischen Grundsatzdebatten über ihren Stellenwert wurde die Turksprache für das Konzept der Europaschule akzeptiert. „Türkisch ist nach Deutsch die meistgesprochene Muttersprache in Berlin“, sagt Mutlu. Deshalb sei es wichtig, dass sich die Sprache im deutschen Bildungssystem wiederfindet.

Die erste türkischsprachige Lehrstätte war die heutige Aziz-Nesin-Grundschule. Engagierte Eltern hatten bei Senat und Bezirk dafür gekämpft und vor 13 Jahren ein provisorisches Schulgebäude gestellt bekommen, das sie selbst streichen und einräumen mussten. Die Schule startete mit vier Klassen, in denen jeweils gleich viele deutsche und türkischstämmige Kinder waren. So kam es, dass Türkisch in Berlin zum ersten Mal auf dem Lehrplan stand. „Erfahrungsgemäß verlassen in der Oberschule häufiger deutsche Kinder die bilinguale Ausbildung“, bedauert Pädagogin Kilic.

Maria Sigmund jedoch hielt durch und gehört weiterhin zu den pädagogischen Pionieren. Ihre Mutter wollte, dass ihr Kind von Anfang an eine zweite Sprache „und eine andere Kultur“ kennenlernt. „Besonders für die deutschen Kinder in der Klasse ist das toll.“ Heute ist Ariane Sigmund stolz, weil ihre Tochter so gut Türkisch spricht, dass sie bei der Klassenfahrt in der Türkei für eine Einheimische gehalten wurde. „Türkisch war für mich in der Oberschule ziemlich einfach“, sagt Maria selbst, „im Gegensatz zu Englisch, das in der Mittelstufe neu dazukam.“ Ob sie die Sprache auch in ihrem Berufsleben brauchen kann, weiß sie nicht. Sie will Physik studieren. Aber in Berlin mache es sich ziemlich gut, Türkisch zu können.

Zusammen mit ihrem Mitschüler Paul wird Maria vor der Zeugnisvergabe an diesem Abend die Abiturrede halten – und zwar auf Türkisch. Die beiden wollen erklären, warum es schön war, eine fremde Kultur kennenzulernen. „Ich habe mir angewöhnt, Freunde zur Begrüßung immer auf beide Wangen zu küssen“, sagt Maria und lacht. Außerdem gestikuliere sie oft wie Türken. Auch das mache sich gut in Berlin.

Zeynep Aktürk ist ebenfalls seit der ersten Klasse dabei. „Ich fühle mich sicherer, seit ich so gut Türkisch kann“, sagt die Tochter aus einer Arbeiterfamilie. Das sei keine Selbstverständlichkeit, auch wenn ihre Eltern aus Adana kommen. Im Unterricht hat sie viele Wörter gelernt, die sie aus dem Alltag nicht kennt. Das könne ihr noch helfen, sagt die 19-Jährige: „Ich will Architektur studieren und ein Semester nach Istanbul gehen.“ Leben wolle sie aber in Deutschland – „oder im schönen Norwegen“.

Ferda Ataman

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