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Berlin: Schüsse auf DDR-Schüler bleiben ungesühnt Richter hatten „letzte Zweifel“an der Schuld

Mehr als 100 Schüsse wurden auf Wilfried Tews abgefeurt, als er vor vierzig Jahren in den Westen floh. Acht Kugeln trafen ihn.

Mehr als 100 Schüsse wurden auf Wilfried Tews abgefeurt, als er vor vierzig Jahren in den Westen floh. Acht Kugeln trafen ihn. Wie durch ein Wunder überlebte der damals 14-jährige Schüler. Die Schüsse aber bleiben ungesühnt. Das Berliner Landgericht sprach gestern drei ehemalige DDR-Grenzsoldaten, die zu den Schützen gehört haben sollen, vom Vorwurf des versuchten Totschlags frei. „Die Kammer ist in keiner Weise von der Unschuld der Angeklagten überzeugt“, sagte Richter Peter Marhofer. Doch es seien „letzte Zweifel“ geblieben.

Wilfried Tews war am 23. Mai 1962 am Invalidenfriedhof über die Mauer geklettert und in den Spandauer Schifffahrtskanal gesprungen. Im Kugelhagel schwamm er zum westlichen Ufer. Um den Schwerverletzten bergen zu können, schossen West-Berliner Polizisten zurück. Dabei wurde der 21-jährige DDR-Grenzsoldat Peter Göring tödlich getroffen. Für den Westen waren es Schüsse aus Nothilfe, für den Osten ein „feiger Mord“.

Mindestens acht DDR-Grenzer sollen auf Tews geschossen haben. Es spreche viel dafür, dass auch die heute 59- bis 65-jährigen Angeklagten auf den jungen Flüchtling feuerten, hieß es im Urteil. Einer von ihnen hatte das bestritten, die beiden anderen schwiegen im Prozess. Dem Gericht blieben nur wenige Zeitzeugen, die sich zumeist nicht mehr erinnern konnten, und Unterlagen aus DDR-Archiven. Ob die Angeklagten gezielt mit Tötungsabsicht schossen, konnte aus Sicht der Richter nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Es sei auch nicht ausgeschlossen, „dass Peter Göring sämtliche Treffer verursacht haben könnte“, so das Urteil.

Die DDR stilisierte Göring zum Märtyrer. Straßen, Schulen oder Kasernen wurden nach ihm benannt. Noch heute tragen eine Straße in Strausberg und eine Schule in Mecklenburg-Vorpommern seinen n. In der Schule gab es wohl Diskussionen. Man fragte bei der Berliner Staatsanwaltschaft an, ob Göring Täter oder Opfer sei. Die Überzeugung der Anklage ist eindeutig. Gegen die drei Angeklagten hatte Staatsanwalt Matthias Bath Bewährungsstrafen zwischen neun und 18 Monaten gefordert.

Der Heilpraktiker Wilfried Tews kam einmal nach Berlin zum Prozess. Die Aussage fiel ihm schwer. Seine Stimme erstickte in Tränen, als er vom Kugelhagel berichtete. Er zeigte den Richtern die Einschussstellen in Armen, Beinen, Lunge und Halswirbel. Er ist schwer behindert. Zynisch die Bemerkung eines Anwalts: „Die Angeklagten konnten keine Tötungsabsicht gehabt haben, sonst hätten sie getroffen.“ Kerstin Gehrke

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