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Inhaber Hans-Günther Scholtz mit einem Satz Figuren von Robinson und Freitag.

© Thilo Rückeis

Charlottenburger Traditionsgeschäft: Seit 1934: Zinnsoldaten und Wehrmachtszeug

Ein Geschäft in Charlottenburg verkauft neben Zinnsoldaten auch Wehrmachtsmaterial. Für Historiker, nicht für Neonazis, beteuert der Inhaber.

Alles ist klein, nicht selten klitzeklein. Das Auge verliert sich in den zahllosen Details der bunten Miniaturwelten in den erleuchteten Vitrinen und geht auf Zeitreise. Denn ein Besuch im Ladengeschäft „Berliner Zinnfiguren“ in der Knesebeckstraße in Charlottenburg ist wie ein Sprung in die Vergangenheit. Nicht nur, da im Zeitalter von Lego und Videospielen Zinnfiguren an sich aus einer längst vergangenen Epoche zu stammen scheinen. Sondern auch, weil den Besucher ein historischer Bilderbogen erwartet, von den Dinosauriern bis zu Soldaten der Nationalen Volksarmee der DDR.

Auch Szenen aus dem alten Berlin sind in den Vitrinen zu finden: Es gibt zwei Modelle vom Brandenburger Tor, das eine hatte die Lufthansa für ihre Gäste auf dem ersten Flug von Köln/Bonn nach Berlin am 28. Oktober 1990 bestellt. Es darf genauso wenig fehlen wie die Siegessäule, ein Königlich Preußischer Schutzmann oder Milchjunge Bolle mit Handglocke und Kannen. In dessen Nähe lehnt Dienstmann Ferdinand Strumpf alias „Eckensteher Nante“ mit rotem Halstuch und blauer Jacke lässig an einem Straßenpoller. Das Berliner Original pflegte im 19. Jahrhundert das Geschehen an seiner Stammecke Königstraße/Neue Friedrichstraße in Mitte mit Herz und Schnauze zu kommentieren. Daneben bietet ein „Wurstmaxe“ aus der Zeit um 1900 seine Ware feil, ein Vorläufer des heutigen Grillwalkers.

Neonazis gehörten nicht zu seinen Kunden

„Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, entdeckt so manches wieder, was nur scheinbar verschwunden ist. Es hat nur eine neue Form angenommen“, sagt Ladeninhaber Hans-Günther Scholtz. Alles sei schließlich Geschichte: die Form einer Straßenlaterne genauso wie der Schnitt einer Herrenjacke – oder ein Straßenname. Scholtz spricht sich daher gegen die Umbenennung der Mohrenstraße in Mitte aus: „Der Name ist von geschichtlicher Bedeutung. Er ist nicht rassistisch gemeint, sondern kommt aus damaliger Sicht einer Ehrung afrikanischstämmiger Bewohner Berlins gleich“, sagt er. Diese Deutung ist aber nur eine von mehreren. Scholtz betont mehrfach, wie wichtig die historischen Umstände für das Verständnis gesellschaftlicher Entwicklungen seien. Aber muss Verstehen auch Akzeptieren bedeuten, rückt eine solche Sichtweise nicht in die Nähe von Geschichtsrelativismus? Scholtz sagt, das sehe er nicht so.

Verkauft wird auch ein Kalender des rechtsextremen Arndt-Verlags

Doch wo Zinn ist, sind Zinnsoldaten nicht weit. Ja, es gibt in der Knesebeckstraße nicht nur Berliner Lokalkolorit und Weihnachts- sowie Osterschmuck, Alltag im alten Preußen, Tiere oder historische Post- oder Feuerwehrautos zu kaufen, sondern auch sehr viele militärische Szenen, auch aus den beiden Weltkriegen. In einem der hinteren Räume stapeln sich die Modellbausätze von Panzern oder Militärflugzeugen bis fast zur Decke. In den Bücherregalen steht jede Menge militärgeschichtliche Literatur. An einer Wand hängt gar ein „Farbbildkalender Zweiter Weltkrieg 2020“ aus dem Arndt-Verlag. Er gehört zu den einflussreichsten der als rechtsextrem eingestuften Verlage und wird vom Verfassungsschutz unter anderem wegen „Beschönigung der NS-Zeit“ und „Verherrlichung der Militärtechnik des Dritten Reiches“ beobachtet.

In den hell erleuchteten Vitrinen des Geschäfts kann man in längst verstrichene Epochen eintauchen – von der Kolonialzeit bis zu Szenen aus dem Alt-Berliner Alltag.
In den hell erleuchteten Vitrinen des Geschäfts kann man in längst verstrichene Epochen eintauchen – von der Kolonialzeit bis zu Szenen aus dem Alt-Berliner Alltag.

© Thilo Rückeis

Da der Kalender teils unveröffentlichte Fotos von Wehrmachtssoldaten und -fahrzeugen zeige, sei er neben wenigen Sachbüchern aus dem Arndt-Verlag, die er noch anbiete, einfach nur eine wichtige Fundgrube für Historiker und Sammler mit Interesse an Uniformen oder Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg, sagt Scholtz. Und weil die zwölf Bilder des Kalenders somit aus seiner Sicht nur Wert für Sammler haben, habe er auch keine moralischen Bedenken, ihn in seinem Laden zu verkaufen. „Dann darf ich mir auch kein Essen von Nestlé mehr kaufen, wenn ich überall so in die Tiefe gehen will“, sagt der 72-Jährige. Eine Gewissensprüfung könne und wolle er bei seinen Kunden jedenfalls nicht durchführen.

Die Rechercheure für "Inglourious Basterds" waren auch da

Zieht ein solch großes Angebot an Wehrmachtsmaterial nicht dennoch Menschen an, die die Geschichte des Dritten Reiches beschönigen oder gar verherrlichen? „Nein, Rechtsgesinnte gehören überhaupt nicht zu unseren Kunden“, ist sich Scholtz auch ohne Gewissensprüfung sicher. Als die Rechercheure für Quentin Tarantinos Nazi-Satire „Inglourious Basterds“ in sein Geschäft kamen, hätten sie an die 40 Bücher über den Zweiten Weltkrieg gekauft, erzählt Scholtz mit einem gewissen Stolz. Und wenn er zufällig mal auf jugendliche Neonazis gestoßen sei, haben seine historisch genauen Nachfragen ihr tumbes Grölen schnell verstummen lassen, sagt Scholtz. Die augenfällige Präsenz des Militärischen in seinem Laden erklärt er so: „Über zivile Kleidung existieren vielleicht 20 Bücher, über Uniformen jedoch 3000.“

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Im Entwurf ziviler Szenen habe man deshalb auch viel mehr Freiheiten. Als Scholtz einmal eine Figur aus dem 18. Jahrhundert fälschlicherweise in eine Uniform mit zehn anstatt fünf Knöpfen gesteckt habe, habe er diesen Fehler später korrigieren müssen.

Die Anfänge seines Geschäfts mit den heute 15 Mitarbeitern gehen auf das Jahr 1934 zurück, sagt Scholtz. Damals hatte sein Vater Werner Scholtz in der Kaiser-Friedrich-Straße in Charlottenburg begonnen, neben Bürobedarf auch Zinnfiguren zu verkaufen. Durch die Kriegs- und Nachkriegswirren musste die Familie später mehrmals umziehen, zweimal wurde das Geschäft am Potsdamer Platz ausgebombt. In der Knesebeckstraße ist das Geschäft seit 1967 beheimatet. 1974, nach dem Tod des Vaters, hat Hans-Günther Scholtz es übernommen. Heute verkauft der gelernte Graveur seine Produkte etwa zu gleichen Teilen im Laden und über das Internet. Seine Kunden stammen unter anderem aus Europa, Südamerika und Asien.

Die filigranen Figuren gehörten zu Scholtz Kindheit

Scholtz, 1947 geboren, wuchs als kleiner Junge ohne Radio oder Fernsehen, dafür mit den bunten, filigranen Figuren auf. Die Großmutter brachte ihm mit einem Set die Geschichte Robinson Crusoes nahe. Eine Szene, die einen türkischen Markt darstellte, übte damals eine besonders große Faszination auf den Jungen aus. Als Heranwachsender durfte Scholtz dann helfen, die Zinnfiguren zu entgraten und zu bemalen. Eine Mark bekam er für 100 Stück, das sicherte ihm das Sonntagskino im Alhambra in Wedding, wo die Familie damals wohnte.

Ein Mitarbeiter bei der Produktion der Zinnfiguren.
Ein Mitarbeiter bei der Produktion der Zinnfiguren.

© Thilo Rückeis

Vom Vater stammen auch noch manche der alten Schieferformen, die in hohen Regalen in der Gießerei in einem der Hinterzimmer lagern. Rund 30 000 Formen, in denen die flachen und halb-plastischen Figuren per Hand aus einer Zinnlegierung gegossen und anschließend mit Acryl- oder Ölfarbe bemalt werden, nennt Scholtz sein Eigen. Ralph, der nicht mit vollem Namen genannt werden möchte, gießt gerade den Querflöte spielenden Friedrich den Großen nach dem berühmten Gemälde von Adolph von Menzel. Die Technik dabei ist noch die gleiche wie vor 150 Jahren, nur dass der Tiegel inzwischen elektrisch und nicht mehr durch Kohle erhitzt wird. Erst wird mithilfe einer Petroleumlampe Ruß auf die Form aufgetragen, dann mit einem Puderzerstäuber, in diesem Fall einem alten DDR-Relikt, pulverisierte Kreide. Beides soll die Fließeigenschaften der auf rund 450 Grad erhitzten Zinnlegierung verbessern, die dann nach dem kurzen Zusammenpressen der beiden Formteile schnell abkühlt: Fertig sind Friedrich und seine Flöte.

Den Beruf des Zinngießers gibt es nicht mehr

Ralph ist laut Scholtz noch der einzige professionell arbeitende Zinngießer in Berlin, den Ausbildungsberuf gibt es, genau wie den des Graveurs, längst nicht mehr. Die noch existierenden Zinngießereien in Deutschland könne man, sagt Scholtz, auch an einer Hand abzählen. Ein Ladengeschäft wie das seine, dem eine Gießerei angeschlossen sei, gebe es selbst in New York nicht mehr. „Es ist schade, dass solche Hinterhof-Fabrikationen wie die unsere immer mehr aus der Stadt verschwinden“, sagt er. An die Stelle von individuellen Läden trete Einheitsbrei. Neulich habe er mal in einer Mall etwas Rettich einkaufen wollen. Schrecklich sei das gewesen, erzählt er. Diese belanglose Bauweise, an die sich später niemand mehr erinnern mag. Eingang in Scholtz' Zinnfiguren-Archiv findet dieser Abschnitt der Architekturgeschichte ganz sicher nicht.

Berliner Zinnfiguren und Preußisches Bücherkabinett. Knesebeckstraße 88. Mo bis Fr 10 bis 18 Uhr. Sa 10 bis 15 Uhr. Tel. 3157000. www.zinnfigur.com.

Eva Steiner

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