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Berlin: Seite gewechselt, Sitz behalten

Der Übertritt des FDP-Abgeordneten Martin Matz zur SPD wirft ein altes Problem der Parteiendemokratie auf

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Als Martin Matz die FDP-Fraktion im Abgeordnetenhaus verließ, wurde er noch am selben Tag vom FDP-Landesvorstand aufgefordert, sein Mandat zurückzugeben. Die Begründung: Matz habe den Sitz im Parlament den Liberalen und deren gutem Wahlergebnis 2001 zu verdanken. Der Wechsel des FDP-Politikers zur SPD wirft interessante Fragen auf: Wem gehört ein Parlamentsmandat? Darf ein Abgeordneter darüber frei verfügen?

Das Grundgesetz, Artikel 38, sagt dazu: Die Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Im Parlament sitzen also Volksvertreter und keine Parteifunktionäre. Das Mandat haben sie von ihren Wählern auf Zeit verliehen bekommen. Das klingt gut, aber auch ein bisschen lebensfremd. Schließlich leben wir in einer Parteiendemokratie. Parteilose Kandidaten haben kaum eine Chance, ins Parlament zu kommen. Fraktionslose Abgeordnete haben keinen Einfluss auf das politische Geschehen. Und so bewegt sich jeder Volksvertreter im Spannungsfeld zwischen freiem Mandat, der Treue zur Partei und dem Zwang, den die Fraktion ausübt. Wechselt er die Fronten, wechselt auch die politische Qualität seines Mandats.

Beschränkt sich ein Fraktionswechsel auf die Reihen der Opposition, ist das eher eine Prestigefrage. Der Berliner Politiker Hans Schwenke hat vorgemacht, was alles möglich ist: 1990 wurde er für die „Vereinigte Linke“ in die Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt. Über die Landesliste von Bündnis 90/Die Grünen kam er ins Abgeordnetenhaus. Dort lief Schwenke zum „Neuen Forum“ über, um 1993 in der FDP-Fraktion zu landen, die er ein halbes Jahr später wieder verließ. Bis zum Ende der Wahlperiode blieb er fraktionslos. Die kuriose parlamentarische Biografie war aber bedeutungslos für die Machtverhältnisse.

So ganz anders, geradezu politisch schicksalhaft waren die Aus- und Übertritte im Bundestag in der ersten Phase der sozialliberalen Koalition. Alles drehte sich damals um die Ostverträge der Regierung Willy Brandts. Im Oktober 1970 verließen die FDP-Politiker Erich Mende, Heinz Starke und Siegfried Zoglmann ihre Fraktion und liefen zur CDU/CSU-Fraktion über. Im Frühjahr 1972 folgte ihnen der liberale Abgeordnete Wilhelm Helms. Herbert Hupka und Franz Seume traten aus der SPD-Fraktion aus, um sich der Unionsfraktion anzuschließen. Das ermutigte die Opposition, den Kanzler mit einem Misstrauensvotum stürzen zu wollen. Der Versuch der Union, an die Macht zu gelangen, scheiterte knapp.

Manchmal scheint ein Fraktionsaustritt eher menschliche als politische Gründe zu haben. So verließ der Berliner CDU-Abgeordnete Ekkehard Wruck im Dezember 1999 seine Partei und die Fraktion unter rätselhaften Umständen. Tagelang suchten die ehemaligen Parteifreunde nach ihm. Auch Wruck wurde schließlich von der CDU-Spitze aufgefordert, das Mandat niederzulegen. Er tat es nicht, sondern blieb als fraktionsloser Einzelkämpfer noch bis zur Wahl 2001 im Parlament. Vereinsamt und krank starb er zwei Jahre später.

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