zum Hauptinhalt
Klare Ansage. Immer wieder protestieren Frauen gegen sexuelle Diskriminierung, wie hier beim „Slutwalk“ 2011. Zuvor hatte ein Polizist Frauen empfohlen, „sich nicht wie ,Schlampen‘ anzuziehen, wenn sie nicht Opfer sexueller Gewalt werden wollen“.

© imago stock&people

Update

Sexuelle Belästigung in Berlin: Die Furcht vor alltäglichen Übergriffen

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum ist auch in Berlin ein Dauerthema. Auch in der Silvesternacht gab es vereinzelte Vorfälle.

Fremde Hände die einen plötzlich anfassen, Brüste betatschen, an die Oberschenkel greifen, obszöne Laute, ein versuchter Kuss. In der U-Bahn, in der Schule, in der Universität, im Park. Sexualisierte Gewalt und Belästigung im öffentlichen Raum sind für viele Frauen Alltag. In Berlin gab es in der Silvesternacht zwar keine massenhaften Übergriffe wie in Köln, aber immerhin bis Mittwochabend sechs Anzeigen von sexuell belästigten Frauen. Zwei festgenommene Männer sollen jeweils eine Besucherin der Festmeile unsittlich berührt haben. Ein weiterer mutmaßlicher Übergriff auf der Megaparty wurde am Dienstag von einer Frau angezeigt. Außerdem soll es in der Neujahrsnacht noch drei weitere Belästigungen in Kreuzberg, Prenzlauer Berg und im Tiergarten gegeben haben.

Laut Polizei sind diese Zahlen allerdings für ein Millionenpublikum nicht außergewöhnlich hoch. Auch auf der Festmeile 2014/15 hätten sich drei Übergriffe ereignet. Bei den jetzigen Tätern handelt es sich um einen 17-jährigen Pakistaner und einen 20-jährigen Iraker. Beide leben in Flüchtlingsheimen. Der Iraker soll einer Frau ins Gesicht geschlagen haben, nachdem sie sich seine Angriffe verbat. In beiden Fällen riefen die Opfer gemeinsam mit Zeugen nahe Polizisten zu Hilfe. Im Falle des Übergriffes in Prenzlauer Berg wurde gleichfalls ein Tatverdächtiger festgenommen – diesmal ein Deutscher. Ob bis zum Donnerstagmorgen weitere Anzeigen eingingen, konnte ein Polizeisprecher zunächst nicht sagen.

Dunkelziffer von Sexualdelikten 10-20 Prozent höher

Belästigung und sexualisierte Gewalt sind auch bei den Berliner Frauennotrufen ein Dauerthema, sagen Beraterinnen von Lara, einem Beratungszentrum für vergewaltigte und belästigte Frauen. Nur verlässliche Zahlen gibt es keine. Generell fließt nur in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), was zur Anzeige gebracht wurde. Im Jahr 2014 sind das 684 Fälle von Vergewaltigung oder sexueller Nötigung. Sexualdelikte im ÖPNV-Bereich haben um 11,1 Prozent zugenommen, 61,8 Prozent der Täter sind Deutsche. Rechnet man die Fälle heraus, in denen das Opfer zu dem Täter in einer Beziehung stand (mit 60,5 Prozent die Mehrheit), dann bleiben noch 270 Fälle übrig. Doch über die gibt es keine gesonderten Daten. Weder in der PKS noch im Berliner Kriminalitätsatlas erfasst sind außerdem Beleidigung mit sexuellem Hintergrund, obwohl dies eine Straftat ist.

„Das könnte man anzeigen, aber die meisten tun es nicht“, sagt Anette Diehl, seit 29 Jahren beim Frauennotruf Mainz, Mitglied des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland. Sie weiß, dass die Dunkelziffer von Fällen sexualisierter Gewalt im öffentlichen, wie im privaten Raum weitaus höher liegt. „Man geht davon aus, dass es 10 bis 20 Prozent mehr sind“, sagt Diehl. Dass so viele Frauen in Köln, zur Polizei gingen bezeichnet sie als außergewöhnlich. Sie sagt: „Ich vermute, dass in Köln die Diebstähle der Auslöser waren, um Anzeige zu erstatten.“

"Berlin ist eine aggressive Stadt"

Anzunehmen, dass das Problem in Berlin nicht existiere, nur weil es wenige Anzeigen gebe, sei falsch, bestätigen auch Berliner Frauenberaterinnen. „Das Strafrecht zur sexuellen Nötigung ist unserer Ansicht nach reformbedürftig“, sagt Maria Noe von Lara. „Es birgt wenig Erfolgschancen und verlangt den betroffenen Frauen sehr belastende, teils demütigende Vernehmungen ab. Daher werden wenig Delikte zur Anzeige gebracht.“ Das Gefühl, bei der Polizei nicht ernst genommen zu werden, findet sich auch in den Geschichten, die Frauen anonym auf der Hollaback Berlin Webseite veröffentlichen. Hollaback – was soviel heißt wie „Brüll zurück“ – ist eine weltweite Kampagne von Menschen, die sich gegen Belästigung im öffentlichen Raum wehren.

Der Berliner Ableger wurde unter anderem von Julia Brilling gegründet. Von den hunderten Geschichten die bisher dort veröffentlich wurden, weiß Brilling von keinem Fall in dem erfolgreich Anklage erhoben wurde. Sie sagt: „Ich habe das Gefühl, dass Berlin eine sehr aggressive Stadt ist.“ Sie erzählt von Männern, die in der U-Bahn neben Frauen masturbierten, andere Fahrgäste schauten weg. „Das passiert in allen Stadtteilen, vor allem dort wo viele Menschen zusammenkommen und wenn Alkohol im Spiel ist.“ Eine Karte auf der Webseite zeigt: Belästigungen und Übergriffe gibt es in Charlottenburg genauso wie in Steglitz oder Neukölln.

Verbale Belästigung keine Lappalie

Das Problem sei, dass vieles im Vorbeigehen geschehe. Brilling sagt: „Alles was sich als Belästigung anfühlt, ist Belästigung.“ Und auch, wenn Belästigung verbal stattfinde, sei es keine Lappalie, sondern könne bei Frauen ein Trauma auslösen. Für viele Frauen sei es besser mit Freundinnen darüber zu reden, anstatt zur Polizei. Brilling sagt: „Die Polizei müsste besser geschult werden, vor allem nicht das Opfer zu beschuldigen.“

Auch für die Silvesternacht gibt es auf Hollaback einen Eintrag. Eine junge Frau beschreibt, wie ein Mann ihr bis zu ihrer Haustür in Moabit gefolgt, obszön geworden sei. Sie habe sich ins Treppenhaus gerettet. Der Mann habe noch lange gegen die Tür gehämmert. „Ab jetzt werde ich ein Taxi in der Gegend nehmen“, schreibt sie. Anette Diehl empfiehlt allen Opfern von Übergriffen oder Belästigung, darüber zu sprechen, sich zu erinnern, was einen stark mache. „Das Wichtigste ist aus diesem Ohnmachtsgefühl herauszukommen.“

Pascale Müller

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false